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INTERVIEW Hélène Grimaud

„Musik gibt Dir jedes Mal etwas Neues“

Hélène Grimaud erklärt, was Musiker vom mentalen Training der Sportler für frische Interpretationen lernen können

vonMargarete Zander,

Gar nicht so einfach, einen Termin mit der viel beschäftigten Pianistin zu bekommen. Von Los Angeles nach Wien und Moskau ist sie unterwegs, zwischen Proben und Fotoshooting ist sie dann aber doch anzutreffen. Der Termin ist sorgsam gewählt, sie nimmt sich Zeit und ist dann ganz präsent. Gerade hat sie die beiden Klavierkonzerte von Johannes Brahms eingespielt. Das erste spielt eine besondere Rolle für Sie – vor 15 Jahren spielte sie es schon einmal ein – und wird es auch mit dem NDR Sinfonieorchester in Hamburg spielen.

„Ich könnte nicht ohne dieses Stück leben“ sagen Sie zu Brahms 1. Klavierkonzert. Was macht dieses Stück für Sie so besonders?

Das ist eines der Stücke, das wirklich wesentlich für mein Leben ist, als Mensch, als Künstlerin. Ich könnte mir mein Leben nicht ohne das d-Moll-Konzert von Brahms vorstellen.

Liegt es an der Tonart d-Moll, an der Widmung an Clara Schumann im zweiten Satz, was hat Sie so in das Werk hineingezogen?

Das ist schwer zu sagen. Das Werk hatte eine so große Wirkung auf mich, als ich die Aufnahme mit Carlo Maria Giulini und Claudio Arrau gehört habe, es hat mich regelrecht gefangen genommen und verzaubert. Und Sie haben vermutlich Recht, es hat auch etwas mit d-Moll zu tun, denn das war immer meine Lieblingstonart. Der erste Satz, ein Requiem, hat etwas Zwingendes, auch wenn wir wissen, dass Brahms es wieder und wieder überarbeitet hat. Aber wenn wir es hören, hat es dieses Wilde eines ersten Pinselstriches. Der zweite Satz ist wie ein Gebet, leidenschaftlich und sehnsuchtsvoll, wir sprechen im Französischen von „Recueillement“, also von „innerer Einkehr“. Das berührt Dich sehr tief, es gräbt sich regelrecht in Dein Innerstes ein. Und dann folgt das wunderbare Finale, das für mich ein Wegbereiter des Sacre du Printemps von Strawinsky ist. Da gibt es etwas, das mit der Feier der Wiedergeburt zu tun hat.

Haben Sie Ihre alte live-Aufnahme des Klavierkonzerts mit der Staatskapelle Berlin noch einmal gehört, als Sie sich auf die neuen Aufnahmen vorbereitet haben?

Nein, ich habe die Aufnahme lange nicht gehört und die Erinnerung bezieht sich eher darauf, wie sich das damals angefühlt hat. Ich bin nicht sehr gut im Vergleichen. Aber ich würde vermuten, heute ist mein Blick darauf wahrscheinlich freier und radikaler als damals. Aber ich würde das Urteil gern anderen überlassen.

Sie haben die beiden Brahmskonzerte mit einem momentanen Dream-Team aufgenommen, mit Andris Nelsons und den Wiener Philharmonikern und dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks. Ist das jetzt der Maßstab für all Ihre kommenden Interpretationen?

Eine sehr interessante Frage, das ist etwas, das uns manchmal zu Gefangenen unserer selbst machen kann. Und das ist etwas, das wir uns ständig neu klar machen müssen, dass diese Meisterwerke, diese „heiligen“ Werke nur eine Chance bekommen, zu leben, durch eine neue Interpretation. Man muss es im Sinne eines Abenteuers angehen: alles auslöschen, was vorher war und ebenso jeden Gedanken daran, was kommen könnte. Und das ist wahrhaftig der einzige Weg, den Moment voll und ganz auszukosten.

Können Sie erklären, wie Sie sich dann neu auf die Situation in Hamburg mit Hengelbrock vorbereiten?

Ich werde definitiv üben. Was ich immer gern tue, ist zu den Grundlagen zurückzukehren. Ich nehme gern die Dinge auseinander und arbeite mich sehr langsam durch das Stück hindurch. Und dann gibt es immer einen Teil der Arbeit, der nicht am Klavier stattfindet, eine mentale Praxis, die eher mit dem Konzept eines Stückes zu tun hat. Und das muss jedes Mal stattfinden, wenn Du ein Stück neu spielst, was bedeutet, dass man sich nie auf dem ausruhen darf, was man einmal erreicht hat. Ich gehe nie in eine Stadt und sage, ach ja, vor drei Wochen oder vor drei Monaten ist das so gut gelaufen, das ist gut. Nein, es ist nicht gut und es ist mit Sicherheit niemals gut genug! Die Musik ist immer stärker und größer und sie hat jedes Mal etwas anderes, was sie Dir gibt, was sie Dir zeigt, etwas Neues, etwas Anderes, und deshalb musst Du jedes Mal hundert Prozent Deines Könnens geben, Deines Könnens und Deiner Aufmerksamkeit.

Wie kann ich mir diese mentale Vorbereitung vorstellen?

Du spielst das Stück im Grunde in Deinem Kopf durch. Du hörst es und fühlst gleichzeitig, welches Gefühl das physisch sein muss, damit Du den Klang bekommst, den Du haben möchtest. Das ist schwer zu erklären, aber für mich ist das ein wesentlicher Teil meiner Arbeit. Schon bevor ich die Bücher von Gieseking gelesen habe über das mentale Üben hatte ich meine eigene Methode dieses mentalen Trainings entwickelt.

Man hört das in den letzen Jahren besonders in Interviews mit Sportlern, dass sie dafür ein extra-Training bekommen.

Ja, genau. Die machen das schon sehr lange. Wir wissen doch, dass viele Dinge reine „Kopfsache“ sind. Es gibt viele Dinge, die wir aus der Welt des Sports lernen können. Ich hatte einen Lehrer, der sich immer darüber beklagt hat, wie ungesund es ist, dass Musiker nicht besser auf ihre körperliche Gesundheit achten. Er sagte: Musiker sind Athleten der kleinen Muskeln. Und die kleinen Muskeln sind noch anfälliger für  Verletzungen als die großen Muskelgruppen. In allen Sportarten haben sie Physiotherapeuten, Masseure, Osteopathen, Chiropraktiker, vor dem Training, während des Trainings, nach dem Training, vor den Spielen usw. und das trägt einen sehr großer Anteil dazu bei, gesund zu bleiben.

Treiben Sie Sport?

Ich tue nicht genug, aber ich denke oft daran. Einer meiner Kollegen, der schon pensioniert ist, sagte zu mir: Ohne meinen Masseur wäre ich schon ein Krüppel. Ich denke viel daran, ich mache Stretching und Gymnastik und wann immer ich die Möglichkeit habe, ein Dampfbad zu besuchen, tue ich es. Das ist mit das Beste, was Du zur Muskelentspannung tun kannst. Ich tue nicht genug und sehe bei einigen Kollegen, was das für ein Problem werden kann! Andererseits ist auch das eine Frage des geistigen Trainings. Wenn Du zu viel physisch trainierst, läufst Du Gefahr, Dich zu verletzen.

Ich habe neulich einen Pianisten gehört, der technisch sehr virtuos gespielt hat aber fast gefühllos und dachte, er solle vielleicht mehr Gedichte lesen.

Als Künstler sollte man kultiviert sein. Ich bin mir nicht sicher, ob ma n das lernen kann, man kann es vertiefen und vergrößern, und es farbiger gestalten durch alles, was Du als Mensch erfährst. Ob das nun das Lesen ist, Gedichte, Literatur oder der Besuch von Museen. Aber nicht nur das. Das allein wäre nicht genug. Es geht auch um die menschlichen Erfahrungen, die Du mit anderen gemeinsam machst, alles, das Deine Empathie vergrößert, die Fähigkeit zu fühlen, was andere Menschen fühlen.

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