Ein junger schwuler Franzose erklärt uns Deutschen den Mythos vom Ring des Nibelungen. Das löste anno 1976 wüste Proteste und Unterschriftenaktionen aus, Morddrohungen gegen die Leitung der Bayreuther Festspiele gar. Dabei hatte Patrice Chéreau, der perfekt deutsch spricht und ein Germanistikstudium absolvierte, die Tetralogie doch nur aus dem Geiste der Musik und ihrer romantischen Entstehungszeit bildmächtig und in absolut ausgefeilter Personenregie erzählt. Das kam freilich, nur 30 Jahre nach Kriegsende, einer Provokation, ja einem Affront gleich. Hatte sich das Neu-Bayreuth von Wieland und Wolfgang Wagner nach der „Stunde Null“ der von allem Politischen bereinigten Abstraktion nach dem Meistersinger-Motto „Hier gilt’s der Kunst“ verschrieben, löst Chéreau nun den Ring aus seinem mythologischen Irgendwo und siedelt ihn konkret im 19. Jahrhundert an. Gründerzeit, Industrielle Revolution. Das war Wagners Welt, die Zeit der Werkentstehung. Was heute zu den handelsüblichen Regiekonzepten gehört, die Betrachtung eines Werks aus dem Kontext seiner Entstehung, funktioniert zwar eher selten richtig gut. Bei Wagner, diesem politischen Zukunftsmusiker und Anarcho-Aktivisten, da wirkt es zwingend logisch.
Mit seinem Bühnenbildner Richard Peduzzi entwickelt Chéreau den Ring aus einer Ikonographie des 19. Jahrhunderts. Fabrikgebäude, ein Staudamm und Fabrikantenvillen als die imposanten Kathedralen ihrer Epoche werden zitiert. Das Geniale an seiner Interpretation aber ist, dass er die intellektuellen Bezüge mit hoher Theatralik, ästhetischen Bildern und mythischen Ritualen zu verbinden versteht. Zum markanten, bis heute treffendsten Signet der Inszenierung wurde der erst nach der Premiere erfundene Walkürenfelsen: ein Stück Ruinenromantik, das direkt auf die berühmte Toteninsel von Arnold Böcklin anspielt.
Unerreichte Darstellung emotionaler Höhepunkte
Chéreau ist 30 Jahre jung, als er mit der Arbeit am Ring beginnt. Vorangegangen ist eine Wunderkindkarriere als Schauspieler und Schauspielregisseur, Giorgio Strehler prägt ihn stark. Wagner aber hat auch er vorab nie inszeniert, überhaupt nur zwei Erfahrungen mit Opernregie hat er bis dato gesammelt. Und dann: Der Ring als eine „Allegorie des 19. Jahrhunderts“, die „im Gewand des Mythos“ auch von uns selbst handelt. So mischen sich in den Entstehungs- und Uraufführungskontext auch die mythische Vergangenheit und die zeitgenössische Theaterrealität. Und: Seine Darstellung von emotionalen Höhepunkten im Gefühlsleben der Figuren besitzt eine Intensität, die bis heute unerreicht ist. Da erweist sich die rege Inszenierungstätigkeit von Chéreau im Schauspiel als absoluter Trumpf.
Nach dem Skandalsommer 1976 entwickelt sich allmählich eine breitere Akzeptanz des Ring. Chéreau nimmt den Werkstattgedanken ernst, entwickelt ganze Szenen und Bühnenlösungen neu. Wenn wir heute vom Jahrhundert-Ring schwärmen, meinen wir jenen von 1980, wie er nach fünf Werkstattjahren gereift war und dann auch auf Video aufgezeichnet wurde. Stilbildend sind die darstellerische Wahrhaftigkeit und unopernhafte Glaubwürdigkeit. Sänger werden zu Schauspielern, bieten individuelle Rollenporträts jenseits aller Klischees und interagieren im Sinne einer perfekten Personenregie, wie sie bis dato in der Oper kaum möglich schien. Peter Hofmann und Jeannine Altmeyer waren ein überwältigendes Inzest-Liebespaar der Wälsungen. Gwyneth Jones war Brünnhilde.
Schöpfer der signifikantesten Operninszenierung aller Zeiten
Heute gilt dieser Ring als die folgenreichste Operninszenierung aller Zeiten. Als der „Chéreau-Ring“ 1980 nach fünf Jahren turnusgemäß abgesetzt wurde, gab es nach der Götterdämmerung einen Beifalls-Marathon von 75 Minuten. Das zwischen Weltuntergang und Hoffnungsschimmer changierende Schlussbild der Tetralogie, mit all den übriggebliebenen Menschen, die uns fragend und zaudernd anschauen, wie es denn nun weitergehen soll: Es ist bis heute zum Bezugspunkt für Ring-Regisseure geworden. Nach Patrice Chéreau war die Opernregie eine andere. Das Regietheater war geboren. Es erreichte in seiner allfälligen Projektion von Zeitgeist freilich nur sehr selten die meisterliche Fokussierung auf den singenden Menschen, dessen Gesten, Blicke, Bewegungen und Emotionen Chéreau aus der Musik ablas und nicht aus den eigenen Neurosen ableiten musste.
Erstaunlich bleibt, dass die historische Rolle des Regisseurs für das Musiktheater sich in nur elf Operninszenierungen spiegelt – von Rossinis L’Italiana in Algeri 1969 bis zur Elektra von Richard Strauss, in diesem Sommer erarbeitet für das Festival in Aix-en-Provence, nur wenige Wochen vor seinem Tod am 7. Oktober 2013. Die Nachrufe in seiner Heimat gedenken freilich nicht dem Erneuerer der Oper, sondern dem großen charismatischen Mann des Schauspiels. Und weltweit ist es der Schöpfer des anspruchsvollen Autorenkinos, an den man sich erinnert – der Mann, der mit Intimacy ein so beklemmendes Beziehungs-Kammerspiel erfand. Der Jahrhundert-Regisseur wollte sich nicht entscheiden zwischen den Künsten des Theaters, der Oper und des Films. Sein universales Werk abseits aller Moden wird uns bleiben.