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Opern-Kritik: Opéra national du Rhin – Quai Quest

Foie Gras für die Ohren

(Straßburg, 26.9.2014) Régis Campo hat eine mutige Literaturoper auf das 80er Jahre-Drama von Bernhard-Marie Koltès geschrieben

vonPeter Krause,

Das muss man sich erstmal trauen, heute so zu komponieren: ein chromatisches Lamento in bester Barockmanier, Schiffshupen-Alltagsklänge wie in Puccinis Il Tabarro, gleißende Tenortöne wie in Brittens Tod in Venedig oder Peter Grimes, ein Raum und Zeit überhöhendes Frauenterzett in ungetrübtem Wohlklang wie im Finale des Rosenkavalier von Richard Strauss, eine orchestrale Illustrationskraft, die geradewegs aus Richard Wagners Instrumentations-Zauberkiste geklaut scheint, eine Mutterfigur, deren Sängerin mit ihrem urweiblichen  Alt so trefflich orgeln darf wie ihre Rollenvorgängerin Azucena in Verdis Il Trovatore.

Wirkungsmacht und Klangklischees

Der 1968 in Marseille geborene Neutöner Régis Campo bedient sich somit der bewährten Mittel aus 400 Jahren Operngeschichte – das Gespenst des Eklektizismus, das Komponisten sonst so scheuen wie der Teufel das Weihwasser, dieses Gespenst ist dem Franzosen, der seine Oper über das Theaterstück Quai Quest des früh an Aids verstorbenen Dramatikers Bernhard-Marie Koltès als eine Art Passion verstanden wissen will, gleichsam zum Freund geworden. Berührungsängste hat er jedenfalls keine. Campo scheut selbst Klangklischees nicht, macht auch mal vor Kitsch mit Musicalverdacht nicht Halt – und doch ist er in jedem Takt ganz bei sich. Er schreibt eine wirkungsmächtige Musik, die sich besonders zu Beginn und Ende, aber auch in manch kontemplativ verweilenden Momenten des konsumablen 90-Minüters immer wieder irisierend leise zurückzunehmen weiß. Seine Musik gibt den Sängern Raum, für die er alles andere als handelsübliche Zick-Zack-Intervallsprünge erdacht hat, sondern eben das, was Sänger brauchen: legatofähige Linien, sogar mal eine Koloratur, Affektfutter und effektvolle Solo-Nummern.

Die Diskurswächter der Neuen Musik rümpfen die Nase

Doch nicht nur die Sänger dürfen jubeln, auch das Publikum akklamiert begeistert, was es hier durchaus genießen darf: eine Ästhetik des Schönen mit all den im schlichten Wortsinn „schönen Stellen“, eine Haltung des Einfühlsamen, der mit feinem Pinsel gemalten, dabei einer filmischer Untermalung nicht fernen Stimmungsbilder, der atmosphärischen Dichte. Nur die deutschen Diskurswächter der Neuen Musik rümpfen die Nase ob so viel streicherzartem Lavendelduft, ob solch geschmacksprallem Foie Gras für die Ohren. Avantgarde ist das – nach den links des Rheins geltenden Maßstäben jedenfalls – nicht, sondern ein dezidiertes Bedienen der Gattung, ihrer gewachsenen  Anforderungen und goldenen Regeln, in diesem Falle auch ihrem Potenzial, dem Realismus des Schauspiels die Magie des Musiktheaters entgegenzusetzen.

Banker trifft Gangster

Womit wir bei den konkreten Herausforderungen – und damit auch den Problemen – dieser mutigen Uraufführung wären. Régis Campos Literaturoper liegt ein Schauspieltext zu Grunde, der mit sezierender Schärfe die äußersten Ränder der Gesellschaft unter die Lupe nimmt, der mit den verlassenen Hafen-Docks einer westlichen Großstadt den finsteren Lebensbereich eines Prekariats in unsentimentalem Licht, mithin ohne jede Sozialromantik grell ausleuchtet. Die dort gestrandeten Gescheiterten, mitsammen Migranten, treffen nun auf einen Vertreter der Oberschicht, der just in diesem Niemandsland aus dem Leben scheiden will, da er das Geld seiner Klienten durchgebracht hat. Der geplante Selbstmord des Maurice Koch belebt den Geschäftssinn der bislang hoffnungslosen Underdogs, die ihm Jaguar und Rolex abnehmen und ihn schließlich gnadenlos abknallen.

Wie Bildungsbürger sich das harte Leben der Proletarier vorstellen

Das von Regisseur Kristian Fréderic auf Basis des Schauspieltextes selbst verfasste Libretto schafft nun aber eine schwierige, eine ziemlich unglückliche Vorlage für den Komponisten. Da entsteht zunächst der seinerzeit schon im Verismo von Puccini und Leoncavallo virulente Zwiespalt: Wenn sich Opern-Bildungsbürger vornehmen, die ungeschminkte Wahrheit des Kleines Mannes auf die Bühne zu bringen, zeigt sich allzu oft deren Blindheit für die Abgründe der Armut. Die Kulinarik der Gattung widersetzt sich gern dem Hunger der Straße. Alban Bergs Wozzeck ist die furiose Ausnahme dieser Regel. Und hier im Speziellen gilt: Der Librettist und Regisseur in Personalunion schafft es nicht, eine dringliche Geschichte der Gegenwart zu erzählen. Seine konventionelle Dramaturgie kondensiert zwar den monologisch geprägten Schauspieltext zu einigen griffigen Begegnungen, ihr fehlt aber der Mut zur Zuspitzung, zur Krassheit, zum freien Aufbrechen der Chronologie der Geschichte und zur Konzentration auf wenige assoziationsstarke Szenen, die das Drama von Koltès wirklich musiktheatertauglich machen würden. Und das hieße dann auch, gezielt der seltsamen Durchlässigkeit von kristallinem Realismus und magischer wie philosophischer Transzendenz auf die Spur zu kommen.

Handzahm harmlose Personenführung

Als Folge seiner Arbeit als Librettist leistet sich der Regisseur – zwischen den einer West Side Story zur Ehre gereichenden Feuerleitern und Brandmauern von Bühnenbildner Bruno de Lavenère – die allzu oft stereotype Zeichnung der Personen, die uns deshalb nur selten etwas angehen. Große Ausnahme ist Claire, das pubertäre Töchterchen einer Migrantenfamilie, die verstört und vergewaltigt am Ende dennoch das einzige und doch so operntaugliche Utopiepotenzial in die Geschichte einbringt. Hendrickje Van Kerckhove singt und spielt die zentrale Rolle koloratureindringlich und hingebungsvoll. Gewisse Glaubwürdigkeit erlangt auch ihr cooler Bruder Charles, dem Julien Behr seinen strahlenden Tamino-Tenor leiht. Paul Gay in der eigentlichen Hauptpartie des Maurice Koch singt mit nie verschattetem Bariton einfach zu kerngesund, um die Weltabschiedspose der Figur wirklich zu beglaubigen. Dagegen findet Mirelle Delunsch für Kochs hysterische Sekretärin Monique ausdrucksstark schrille Soprantöne, und Marie-Ange Todorovitch bringt als Mutter Cécile satte Mezzowucht ins Spiel. Doch die Personenführung bleibt eben viel zu handzahm und harmlos, um aus diesen Typen echte, zur Tragik befähigte Figuren zu formen.

Die Wand des Realismus wird durchsichtig für Sehnsüchte

Um seine kompositorische Kraft voll zu entfalten, hatte es Régis Campo also durchaus schwer. Lang komponiert er nur klug am Text entlang, bis er im letzten Drittel der Oper das Ureigene der Gattung zur Geltung bringt. Hier wird die Wand des Realismus durchsichtig für Träume, Sehnsüchte und Visionen von Liebe, Leben, Versöhnung. Da dehnt sich die Zeit, da kommt die Geschichte aus dem bloßen Nacherzählen heraus, da wird das Elend transzendiert, da entfaltet die Oper das entscheidende Mehr zum Schauspiel. Gern hätten wir das Stück früher in dieser vielsagenden Schwebe erlebt, die beweist, warum ein Schauspielstück durch die Musik eine substanziell neue Qualität erhalten kann.

Marcus Bosch dirigiert mit maximaler Überzeugungskraft

Garant für die Qualität eines dennoch starken, in Erinnerung bleibenden Musiktheater-Abends ist Marcus Bosch am Pult des Orchestre symphonique de Mulhouse. Er lotet das Filigran und die Farben, diese durchaus sehr französischen Valeurs der Partitur mit maximaler Überzeugungskraft aus, er trägt die Sänger auf Händen, er hält die Spannung, gerade auch in den Augenblicken auskomponierter Stille, die sich zu subkutan bedrohlicher Angstmusik auswachsen. Ab Januar 2015 ist Quai Quest, dann in deutscher Übersetzung, wiederum unter seiner Leitung in Nürnberg zu erleben.

 

Opéra National du Rhin Straßbourg

Campo: Quai Quest

 

Ausführende: Marcus Bosch (Leitung), Kristian Fréderic (Regie), Bruno de Lavenère (Bühne), Gabriele Heimann (Kostüme), Paul Gay, Mirelle Delunsch, Marie-Ange Todorovitch, Hendrickje Van Kerckhove, Christophe Fel, Julien Behr, Fabrice di Falco, Augustin Dikongue

 

Termine: Sa. 27.9., 20:00 Uhr, 30.9., 2.10. Oper Straßburg

Sa. 17.1., 19:30 Uhr, 20.1., 7., 15., 18. & 26.2. Oper Nürnberg

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