Schon seine E-Mail-Adresse fällt so gänzlich aus dem üblichen Rahmen: eine Kombination von verwirrenden Buchstaben und einer Ziffer? Olli Mustonen lacht: „Wenn man meinen Vornamen horizontal und vertikal spiegelt, liest man diese Zahl“, erklärt der Pianist, Dirigent und Komponist. „Ich liebe solche Spielereien!“ Wie der Künstler überhaupt ein Faible hat für jene versteckte Botschaften und Zeichen, die schon im Mittelalter die Gelehrten wie auch die Spione beschäftigten – „vielleicht weil mein Vater Mathematiker und Statistiker war“. Kein Wunder also, dass der kleine Olli bereits als Kind fasziniert war von mathematischen Phänomenen, die wie zufällige Übereinstimmungen aussehen, aber doch keineswegs zufällig sind.
Warum Mathematik und Musik so nah beieinander liegen
Gleichzeitig spielte der Vater indes leidenschaftlich Geige und liebte, ebenso wie die Mutter, Alte Musik. So ließ sich für den Sohn an seinen Eltern schon früh konstatieren, was die Neurowissenschaft mittlerweile bestätigt hat: dass Musik und Mathematik die gleichen Hirnregionen aktivieren und somit eng verbunden sind. Und eben solche mathematisch-räumlichen Assoziationen habe auch er gehabt, erinnert sich Mustonen, als er sich als Fünfjähriger erstmals an das Spinett setzte: Ein „dreidimensionales Bild von Note, Taste und Ton tat sich da auf – ich spielte das ganze Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach.“ Bis heute empfinde er das Klavierspiel beinahe wie höhere Mathematik: Dort müsse man oft einen schwierigen Umweg einschlagen, um zu einem Ergebnis zu gelangen – und setze dann stellvertretend komplexe und imaginäre Zahlen ein. Am Klavier sei es ähnlich: Der normale „Spielplatz“ sei die sichtbare zweidimensionale Fläche der Tasten – doch das Ziel sei es, die komplexe, imaginäre Welt „oberhalb“ der Tasten zu erreichen, genauso „wie die imaginären Zahlen ja auch nicht in Wirklichkeit existieren“.
Die Energie muss dem Anschlag vorausgehen
Abstrakte Gedanken, die erst einmal verstanden werden müssen. „Es ist kompliziert“, räumt Mustonen ein. Und versucht sogleich, das Thema auf anderem Wege zu erklären: Pianisten könnten, anders als Sänger oder Streicher, den Ton weder halten noch dabei beeinflussen – „wir müssen beim Anschlag bereits dem Ton eine Energie geben und ihn dann mental verfolgen, bis er in den imaginären Raum dringt.“ Die vollendete Interpretation spielt also im Reich der Illusion? „Nicht in der Illusion, sondern in der Inspiration!“ kontert der Finne. Vorausgesetzt, der Musiker ist ein Meister wie Mustonen, dem Komponisten wie Rodion Schtschedrin ihre Werke widmen und dessen Einspielungen bereits vielfach ausgezeichnet worden sind.
Doch Olli Mustonen ist eben nicht nur Pianist, sondern auch Dirigent vieler bedeutender Orchester und Gründer des Helsinki Festival Orchestra. Und zudem Komponist. Was die Frage aufwirft: Wie hält er es denn dort mit der Imagination und der Mathematik? Zwei Sinfonien hat der Mann aus Helsinki bereits komponiert, zudem einiges an Kammermusik, und erklärt: „Die Mathematik nimmt Einfluss, oft indirekt.“ Das beste Beispiel sei Johann Sebastian Bach, in dessen Werk man mathematische Reihen und zahlenmystische Kombinationen finde. „Bach war gewiss kein Mathematiker, aber er hatte einen mathematischen, ordnenden Geist, dessen er sich vielleicht gar nicht bewusst war.“ Ja, Bach sei auf der Suche nach geistiger und klanglicher Vollendung gewesen.
Teil einer höheren Macht
Was offenbar auch für Mustonen selbst gilt: „In meinen Kompositionen geht es nicht darum, was ich empfinde. Ich komponiere nicht, um mich auszudrücken“, sinniert der Tastenmann. „Ich bin kein romantischer virtuoser Geist, der für das eigene Instrument komponiert – das finde ich eher langweilig. Ich empfinde mich eher als Teil von etwas, das viel größer ist als man selbst: einer übergeordneten Macht.“ Und das könnte am Ende des Tages durchaus die Mathematik sein.