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Interview Matthias Goerne

„Einfach nur singen, das kann ich nicht“

Der Bariton Matthias Goerne über Kraftquellen, die böse Müllerin und Verführungen im Studio

vonUdo Badelt,

Obwohl er schon drei Aufnahmetage und einige Interviews hinter sich hat, strahlt Matthias Goerne in seiner Hotelsuite vollkommene Ruhe aus. In druckreifen Sätzen spricht der gebürtige Weimarer über sein großes Projekt, 200 der 600 Schubert-Lieder einzuspielen.

Herr Goerne, Sie stehen dieses Jahr in Wien, Paris, Berlin und New York auf der Bühne, nehmen Schubert auf, jetzt der Interview-Marathon – was ist ihre Kraftquelle?


Es gibt keine Trennung zwischen der privaten und der künstlerischen Seite meines Lebens. Nichts, was ich mir erzwingen müsste oder als Arbeit ansehe. Die künstlerische Seite ist die Basis für alles. In dieser Berufung finde ich enorme Ressourcen. Ich hatte nie das Gefühl, arbeiten zu müssen in dem Sinne, dass ich mich überwinde und aus meiner freien Zeit in etwas gehe, was ich nicht wirklich machen möchte. Alles ist fließend, alles im absolut gewollten Bereich.

Ein sehr glücklicher Zustand.


Den ich allerdings nicht nur als große Freude empfinde, sondern auch als gelebte und akzeptierte Last.

Inwiefern?


Ich kann mich dem nicht entziehen, es gibt keine Wahl. Verweigerung würde nicht funktionieren. Selbst wenn ich wollte, es würde nicht gehen. Die Musik ist ein so starker Teil von mir, es wäre eine Amputation.

Wie sieht ein typischer Aufnahmetag im Studio aus?


Ich stehe sechs Stunden nonstop vor dem Mikrofon, mit höchstens einer Teepause. Ganz allein mit dem Pianisten, es gibt kein Publikum als Energiequelle. Daher darf ich nicht in die Falle tappen, etwas aufzunehmen, was mit der Realität des Konzertlebens gar nichts zu tun hat. Das Studio verführt dazu, Dinge zu tun, die unrealistisch sind: Extreme Tempi, extreme Dynamik oder andere Superlative. Man sollte das richtige Maß treffen, das sich auch dem vermittelt, der nur zuhört, nicht zusieht.

Die Aufnahmen von Schuberts Liedern sind Legion. Haben Sie sich befangen gefühlt?


Gar nicht. Der Vergleich bringt nichts, denn im Moment der Aufnahme muss jeder absolutistisch sein und sagen: Nur so darf es für mich sein. Ich habe überhaupt nicht den Anspruch, die allein selig machende Interpretation zu liefern. Aber ich gehe das vollkommen unbeeindruckt und unbeirrt an – was nicht blind bedeutet. Man sollte das überhaupt erst machen, wenn man genügend Erfahrung hat und weiß, was andere bereits entwickelt und hinterlassen haben.

Das letzte Lied der Schönen Müllerin, Des Baches Wiegenlied, singen Sie viel langsamer als etwa Peter Schreier. Dass der Bach hier einen Selbstmörder in den ewigen Schlaf wiegt, wird im Grunde erst bei Ihnen richtig deutlich.


Ich habe lange nicht verstanden, was das Sensationelle an der Schönen Müllerin sein sollte. Denn was ich seit Kindertagen im Ohr hatte, war durch Schreier und Fischer-Dieskau geprägt. Aber das ist eine fehlgeleitete Interpretation, wie ich glaube. Diese bis zum Kitsch gehende Biedermeier-Affinität, der plätschernde Bach, der Wanderbursche, der auszieht in die Welt, das Leben genießen will und dann den Tod findet. Die Geschichte ist eine vollkommen andere. Hier ist gar nichts mehr Biedermeier. Biedermeier entspricht auch nicht dem Wesen Schuberts. Wenn Schubert einer bestimmten Ästhetik verbunden war, dann der des gesamten Universums. Tatsächlich geht hier einer in die Welt, nachdem er schon extrem gescheitert ist, und versucht, das zu überwinden, indem er seinen Platz verändert. Das funktioniert bis zu einem bestimmten Punkt, Euphorie stellt sich ein, aber als ihn die alten Gefühle einholen, macht er die äußeren Umstände dafür verantwortlich, die böse Müllerin, den Jäger. Aber keiner von denen hat ihm etwas getan. Es gibt ja keinen wirklichen Kontakt. Er empfindet es nur so. Und dann endet es, was radikal ist und auch nicht zum Biedermeier passt, mit dem Selbstmord. Also: Bei allem Respekt vor einem Jahrhundertsänger wie Peter Schreier – beim Wiegenlied erliegt er in meinen Augen wirklich einem Irrtum. Das ist anders gemeint.

Sie wechseln häufig die Lagen, singen Bass, dann wieder fast mit hohem Bariton.


Modulationsfähigkeit bedeutet nicht nur, verschiedene Farben zu haben, sondern auch verschiedene Stimmen. Man ist nicht dazu verdammt, mit einem Timbre zu singen. Schwer, dunkel, leicht, hoch, metallisch, weich – das sind Ausdrucksmittel, die jede Stimme haben kann. Man muss nur wollen.

Welchen Stellenwert hat die Oper im Moment für Sie?


Denselben wie ein Liederabend. Die enormen Charaktere wie Wozzeck oder Wolfram, die großen, individuellen Rollen, die Gehalt haben, sind natürlich sehr interessant für mich. Und die mit überdimensional großem Freiraum ausgestattete Partien wie Wotan, mit denen man den Verlauf und die Stimmung eines Abends dominieren kann.

Sie sind als Sänger außergewöhnlich reflektiert. Das ist nicht bei jedem ihrer Kollegen so.

Es ist für mich eine absolut zwingende Notwendigkeit, der einzig mögliche Weg. Ich würde anders gar nicht singen können, denn das Singen an sich ist nicht der interessanteste Teil der Arbeit.

Was ist der interessanteste Teil?


Sich beeinflussen zu lassen durch einen konkreten Gedanken. Durch die Klarheit der Vorstellung, die Klarheit der Absicht. Einfach nur zu singen, des Gefühls wegen, das man beim Singen hat, im Sinne eines Sports – das ist etwas, was ich nicht kann, was ich nicht begreife. Es gibt ein Repertoire dafür, Rossini etwa, aber ich könnte mir genau das nicht vorstellen: Noch schneller, noch höher, achtfacher Salto rückwärts. Manche Literatur transportiert ja nicht so viel, weil das von vornherein gar nicht die Absicht ist. Die singe ich nicht. Alles kommt durch den Inhalt, und Stücke ohne Inhalt klingen auch furchtbar langweilig, wenn ich sie mache. Wenn Sie einem Auto die Batterie rauben, fährt es auch nicht mehr.

Album Cover für
Schubert: Nacht & Träume
(Lied-Edition Vol. 5)
Matthias Goerne (Bariton)
Alexander Schmalcz (Klavier)
harmonia mundi

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