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Interview Yo-Yo Ma

„Meine Kindheit war ziemlich verwirrend“

Eitelkeit ist ihm fremd: Mag Yo-Yo Ma auch als bester Cellist der Welt gefeiert werden, er schätzt den dezenten Auftritt

vonHelge Birkelbach,

Wie fühlt es sich an, 60 Jahre alt zu werden? Ziemlich gut, wenn man den Worten von Yo-Yo Ma folgt. Schließlich bringen sechs Lebensjahrzehnte eine Vielzahl von Erfahrungen mit sich – ob nun als Gast im Weißen Haus oder in der Sesamstraße. Erlebnisse, die den Musiker viel über das Leben gelehrt haben – und über transzendente Tänze.

Sie waren acht Jahre alt, als Sie erstmals in der Carnegie Hall spielten. Hatten Sie damals Lampenfieber?

Yo-Yo Ma: Hört sich nach einer großen Nummer an, oder? Aber in diesem Alter kümmerst du dich nicht um leuchtende Namen und die Anzahl der Leute, die in einen Saal passen. Du sorgst dich eher darum, dass deine Zuhörer alle Erwachsene sind – die sind so groß! Es ging nicht um eine Steigerung der Erfahrung: zuerst das Klassenzimmer – und jetzt spiele ich schon in der Carnegie Hall. Nein, eher: Das ist aufregend – aber wann gibt’s Abendessen?

Wie kam es zu dem Konzert?

Yo-Yo Ma: Isaac Stern, mit dem ich später oft auftrat und der ein guter Freund werden sollte, war damals Präsident der Carnegie Hall. Seine Kinder, meine Schwester und ich besuchten dieselbe Schule. Mein Vater gab Isaacs Kindern Violinunterricht. Es war ein Schulkonzert geplant und man kam überein, dass man doch einfach die Carnegie Hall dafür nutzen könne – die war nun mal da. Irgendwie naheliegend. Das war so, als wenn Sie in Berlin als Kind zu Ihren Eltern gesagt hätten: Hey, am Gendarmenmarkt steht doch dieses schöne alte Konzerthaus, wie wär’s denn damit? Ehrlich, so war das damals!

Mit vier Jahren spielten Sie schon Cello, Ihr Vater unterrichtete Sie. War das Instrument nicht zu groß? 

 

Yo-Yo Ma: Nun, ich startete natürlich mit einem Kindercello, das in Länge und Gewicht dem Alter angemessen ist. Für die Zwei- bis Vier-Jährigen gibt es die 1/16-Größe, die ich spielte. Für Drei- bis Sechs-Jährige eignet sich eine 1/8-Ausführung und so weiter. Es verhält sich so wie mit den ersten Versuchen auf dem Kinderfahrrad: Mit dem rast man ja auch nicht gleich über den Highway.

Es gibt Celli für Zweijährige?!

Yo-Yo Ma: Warum nicht? Kinder sprechen schon früh auf Musik an. Sie bewegen sich spontan, sie tanzen zur Musik. Das ist Teil der Erfahrung, alle deine Sinne nutzen zu können. Die Sinne stehen dem Menschen zur Verfügung, um die Welt zu deuten. Musik ist eine jener Disziplinen, die uns dabei helfen, die Sinne auszuprägen und die Aufmerksamkeit zu fokussieren.

Welchen Rat geben Sie Eltern, deren Kinder unbedingt ein Instrument spielen wollen?

Yo-Yo Ma: Natürlich ist jedes Kind verschieden, es gibt kein allgemeingültiges Rezept. Es ist wichtig, genau zuzuhören und zu verstehen, welchen Charakter ein Kind hat. Vielleicht soll es mit dem Klavierspielen anfangen, weil das Instrument bereits vorhanden ist: Dann klimpert es darauf herum, mag es aber gar nicht. Das liegt jedoch wahrscheinlich nicht daran, dass das Kind keine Musik mag, sondern das Klavier doof findet. Aber eines Tages sieht es eine Trompete und ist komplett aus dem Häuschen. Das ist es! Das Kind will sofort Trompete spielen, auf der Stelle, jetzt!

Dieses Wort mögen Eltern besonders gerne …

Yo-Yo Ma: … so ist es. Sie schalten den Autopilot ein: Hans, dafür bist du noch zu klein. Morgen willst du wieder was ganz anderes … Wenn Hans aber die nächsten zwei Jahre immer wieder quengelt: Mama, Papa, wann kriege ich endlich meine Trompete? – dann wissen Mama und Papa, dass Hans das wirklich will. Die Hintergründe sind komplex: Interessiert sich das Kind generell für Musik, oder ist es das Instrument, das so schön glänzt – oder spürt das Kind sofort eine Verbundenheit mit einem speziellen Instrument und dessen Klang?

Auf Ihrer aktuellen CD findet sich Brahms’ Wiegenlied. Heute singen Eltern nur noch selten Lullabys. Schade, oder? 

Yo-Yo Ma: Absolut! Jede Kultur hat ihre Wiegenlieder. Das wäre eine traurige Welt, wenn plötzlich alle Eltern aufhören würden, ihre Kinder sanft in den Schlaf zu singen. Das wäre fast so, als wenn sie nicht mehr mit ihnen reden würden. Wir haben über die Zeit so mannigfaltige Kulturtechniken entwickelt, die wir auch dazu nutzen, um der Existenz eine Bedeutung zu verleihen. Frühe Erinnerungen prägen sich fest in einem gewissen Teil des Gehirns ein, sie bilden die Basis für das Wachsen einer Persönlichkeit in die eine oder andere Richtung. Wie gestaltet der Mensch sein Leben? Teilhabe, Aufmerksamkeit, Liebe: Das alles sind Fähigkeiten, die wir brauchen, um eine Gesellschaft positiv zu beeinflussen und dem Leben einen Sinn zu geben.

Sie haben 2015 Ihren 60. Geburtstag gefeiert – auf welche Erfahrungen blicken Sie gerne zurück?

Yo-Yo Ma: Erfahrungen zu bewerten, ist wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Als neues Mitglied im Kreis der Sechziger habe ich natürlich eine große Kiste mit Erfahrungen mitgebracht. Zwei hebe ich da gerne heraus, weil sie mir sehr am Herzen liegen: Großzügigkeit und Dankbarkeit.

Warum genau die?

Yo-Yo Ma: Ab einem gewissen Alter werden diese beiden Dinge viel präsenter und wichtiger, als es früher vielleicht der Fall war. So vieles ist passiert: Es erfüllt mich mit Freude, etwas davon weitergeben zu können – und dankbar zu sein für die Menschen, die Musik und die Überraschungen, die mir in diesen Jahren so viel Inspirierendes geschenkt haben.

Keine negativen Überraschungen? 

Yo-Yo Ma: Die gab es sicher. Aber eher waren es verwirrende Erfahrungen, die mich beschäftigt haben. Meine Kindheit war ziemlich verwirrend: Geboren wurde ich in Frankreich, meine Eltern stammten aus China, wir zogen von Paris nach New York City, als ich acht Jahre alt war. Was mich dabei verwirrt hat: In den verschiedenen Kulturen behauptete jeder, seine Kultur sei die beste – so ein blöder, unsinniger Streit! Ich war sensibel genug, schnell zu erkennen, wie widersprüchlich die Behauptung war, die ultimative Wahrheit zu kennen. Leider denken die Menschen immer noch so, dass eine Kultur besser sei als die andere. Unglücklicherweise ein ziemlich aktuelles Thema.

Sie setzen sich lieber anderen Kulturen aus, um künstlerische Erfahrungen zu sammeln. Einmal führte Ihr Weg nach Namibia, mitten in die Wüste.

Yo-Yo Ma: Schon während meiner Zeit auf dem College interessierte ich mich stark für Anthropologie und Archäologie. Ich war Gast bei den Buschmännern der Kalahari, die erstaunliche Kenntnisse über die Natur besitzen. Sie kennen jeden Weg in der Wüste und gehen niemals verloren. Besonders beeindruckt hat mich ihr Ritual, sich im Tanz in eine Art Trancezustand zu versetzen. Es hat mir eine Ahnung davon vermittelt, wo und wie Kultur und Wissen entstehen. Viele Elemente finden sich in dieser Praxis der Transzendenz wieder: Musik, Religion, Kunst, Medizin – sozusagen ein Vorläufer unserer Kultur. Ein Impulsgeber unserer „Zivilisation“, die manchmal so ignorant sein kann.

Eine Ignoranz, die auch einer immer mehr dahinrasenden Zeit entspringt?

Yo-Yo Ma: Ja, die Sache wird immer schneller und schneller. Deshalb ist es auch wichtig, manchmal innezuhalten. Dann genieße ich die Schönheit und Ruhe eines Gartens oder freue mich auf den Frühling, wenn sich die Natur mit Farben und Düften zurückmeldet. Das ist so berauschend! Ich würdige viel mehr den Moment. Als junger Mensch ist man ja ständig unterwegs und in Eile. Nun gut, die Musik führt mich rund um den Globus, zu Konzerten und Aufnahmen, aber dafür bin ich auch dankbar. In der Musik finde ich Zuflucht. Und wissen Sie was? Die entspannteste Zeit des Tages ist häufig die, wenn ich auf der Bühne bin und spiele. Das tut richtig gut.

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