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Blind gehört Hardy Rittner

„Brahms mit Bierbauch gibt’s auf alten Flügeln nicht“

Der Pianist Hardy Rittner hört und kommentiert CDs seiner Kollegen, ohne dass er erfährt, was er hört

vonArnt Cobbers,

Seine Aufnahmen von Brahms und Schönberg auf historischen Flügeln haben nicht nur für Aufsehen gesorgt, sie haben auch viele Kritiker überzeugt. Im Konzert spielt der 30jährige Wahl-Berliner allerdings meist auf einem modernen Flügel – aus praktischen Gründen. Beim Blind gehört zeigt sich, dass Hardy Rittner, der Klavier, Musiktheorie und bei Siegbert Rampe in Salzburg historische Tasteninstrumente studiert hat, gewichtige Gründe für seine Instrumentenwahl hat.

Bach: Italienisches Konzert BWV 971

Evgeni Koroliov (moderner Steinway) 1999

hänssler edition bachakademie

Ein kerniger Anschlag, ein sehr präziser Klang, es könnte András Schiff sein. (2. Satz) Was ist das? Aha… Jetzt gefällt es mir doch, anfangs dachte ich: Um Gottes Willen. Bei Bach findet man viel latente Mehrstimmigkeit, dass Dinge nicht mehrstimmig notiert werden, man sie aber aufgrund der Linienführung sehr gut in verschiedene Stimmen aufteilen kann. Das zeichnet er hier extrem scharf, indem er den Orgelpunkt d immer abreißt. Ich würde das nicht so machen, aber die Schichtenlagerung kommt dadurch besonders klar heraus. Es ist schön ungekünstelt gespielt. Bach ist unglaublich progressiv. Wenn Sie zum Beispiel die h-Moll-Fuge aus dem ersten Band des Wohltemperierten Klaviers analysieren, finden Sie da schon eine Zwölf-Ton-Reihe. Dann wiederum gibt es Dinge, die auf die Romantik vorverweisen. Die Frage ist immer: Wie verhält man sich stilgerecht und trotzdem mit einem Maximum an Ausdruck? … Schönes Rubato. Die Kunst bei Bach ist, diese Dinge so klein, aber eben doch zu machen. Ich finde es sehr gut gespielt, mit viel Intelligenz und Feingefühl… Ich denke, man kann Bach problemlos auf einem modernen Flügel spielen, wenn man wie auf dem Cembalo die Dynamik erstmal außen vor lässt und das Stück über die Artikulation erschließt. Dass man vor Synkopen absetzt, dass man größere Sprünge absetzt, dass man vor Sprüngen aufwärts absetzt, da gibt es viele Richtlinien und Traditionen, auch wie man bindet – wenn Sie ein Stück so konsequent durcharbeiten, brauchen Sie quasi keine Dynamik bzw. die Dynamik ergibt sich dann sogar von selbst, wird Teil eines natürlichen und selbstverständlichen Differenzierungsspektrums. Hier piano, da forte – das würde ich ablehnen. Ich bin nie damit warmgeworden, dass viele Pianisten an Bach primär über die Grundverfügbarkeit der Dynamik herangehen. Aber wenn man es richtig macht, verträgt Bach meiner Meinung nach den modernen Flügel viel besser als zum Beispiel Brahms.

Brahms: Fantasien op. 116

Capriccio – Presto energico. Capriccio – Allegro agitato

Elisabeth Leonskaja (Steinway von 1901) 2004

MDG

Das ist Elisabeth Leonskaja. Ihren Brahms erkenne ich sofort, der Steinway von 1901 hebt sich wohltuend ab von den doch sehr einheitlich klingenden ganz modernen Flügeln heute. Und doch ist das Instrument klanglich seinem modernen Pendant natürlich viel näher als einem alten Wiener Pianoforte, wie es Brahms besessen hat. Im Tonsatz lernt man, dass man nach Möglichkeit keine Terzen verdoppelt – bei Brahms gibt’s das dutzendweise, sogar und gerade im Bassregister. Ich dachte immer: Was soll das? Lange mochte ich Brahms nicht, ich fand seine Musik zu träge, zu fettleibig. Den voluminösen Oktavverdopplungen und großen Akkorden bei häufig eher mäßigen Tempi muss man am Steinway klanglich entgegenwirken, sonst bauscht sich der Satz schnell hässlich auf. Dann hatte ich eines Tages das Erlebnis, an einem Erard-Flügel von 1854 Brahms spielen zu können. Und das Dicke, Massige war weg. Die Satztechnik wurde plötzlich plausibel, dieser Basston musste da sein als Charakterverstärker, als Ausdruck einer Emotion oder Virtuosität. Letztere ist bei Brahms eine ganz andere als bei Liszt oder Chopin. Bei Chopin ist sie gebaut durch schnelle brillante Passagen. Bei Liszt sind es Figuration plus Akkorde und Oktaven. Brahms‘ Virtuosität aber entsteht durch die Struktur an sich, durch Klangschichten, durch Akkordschichten. Deshalb, finde ich, profitiert seine Musik besonders von den klanglich viel schlankeren Instrumenten der Zeit. Steht bei Brahms zu einer fetten Bassoktave ein Fortissimo, möchte man das natürlich ausleben, aber die so erzeugte Masse ist auf dem modernen Flügel eine völlig andere als die, die Brahms wollte. Das beeinflusst auch die Wahl der Tempi. Brahms‘ Lieblingsbezeichnung ist Allegro non troppo. Wenn er mal Allegro schreibt, wird es trotzdem oft non troppo gespielt, weil sich der Klang auf dem modernen Flügel sonst so schnell hochschaukelt, die Durchhörbarkeit verloren geht. Brahms will aber ein Allegro. Und das wird einem klar, wenn man ihn auf einem alten Flügel spielt, da erscheinen einem Tempi, die wir heute spielen, oft zu langsam. Diesen bierbauchigen Brahms gibt es auf alten Flügeln nicht.

Liszt: La campanella

Lang Lang (moderner Steinway) 2011

aus: Liszt – My Piano Hero

Sony Classical

Das ist exzellent gespielt. Er oder sie schafft es sogar, diese hohen glockenartigen Töne zu differenzieren. Auch die kleinen Binnencrescendi sind meisterhaft. Das ist handwerkliches Vermögen, aber gepaart mit dem Geschmack, zu differenzieren. Liszt kann man gut auf einem modernen Flügel spielen, weil es bei ihm viel dieses Glitzern, diese Figurationen gibt, auch wegen der oftmals extrem raschen Tempi unterliegt Liszt weniger der Gefahr, zu schwer zu sein. Er wird aber leicht oberflächlich, wenn man ihn einfach nur perfekt virtuos spielt. Das liegt daran, dass Liszt in der Regel gereiht komponiert. Dieses Aneinanderreihen nutzt sich irgendwann ab – wenn man es nicht sehr geschickt differenziert, wie dieser Meister hier es tut. Das ist nicht nur schnell, es hat eine extreme Präzision. Diese Tonqualität in diesem Tempo, das haben nur eine Handvoll Leute. Ist das Cziffra? Pianisten, denen ich das noch zutraue, sind Volodos, aber der ist es nicht, Hamelin, der hat aber nicht diese Phantasie, die ich hier gehört habe, außerdem Martha Argerich, aber mein Gefühl sagt mir, es ist jemand ganz anderes, auf den ich nicht komme. Aber hier ziehe ich meinen Hut, hier habe ich nichts auszusetzen. Lang Lang? Oha. Das hätte ich nicht gedacht. Aber das Beispiel zeigt, dass er abseits aller Mätzchen und Extravaganzen enorme pianistisch-künstlerische Qualitäten besitzt.

Schumann: Waldszenen op. 82

Tobias Koch (Erard 1852) 2008

Genuin

Das könnten Andreas Staier oder Tobias Koch sein, ich würde auf Koch tippen. Das Gesamtwerk von Schumann auf historischen Flügeln aufzunehmen, ist ein epochales Vorhaben. Was mich an dieser Herangehensweise fasziniert, ist, dass man viel über die Musik lernt. Kennt man das alte Instrumentarium dagegen nicht, hat man es zum Teil sehr schwer, den eigentlichen Intentionen des Komponisten nachzuspüren. Trotzdem bin ich weit davon entfernt zu sagen: Die und die Musik muss auf dem oder dem Flügel gespielt werden. Schumann hat oft etwas sehr Quirliges. In der g-Moll-Sonate op. 22 heißt es am Anfang: So rasch wie möglich. Und die Coda soll sogar noch schneller sein. Ich würde das nicht als Absurdität verunglimpfen, das zeigt vielmehr eine gewisse Vorstellung, wie die Musik sprudeln und explodieren soll. Schumann verträgt den modernen Flügel deutlich besser als Brahms – aus demselben Argument heraus: Je schneller ich eine Figuration spielen soll und je weniger Masse ich durch Akkorde bewegen muss, desto leichter wird die Musik – sie kann gar nicht anders. Dennoch: Die Instrumente der Zeit sind so zauberhaft, dass sie es verdienen, gehört zu werden. Sie sind ja auch so verschieden. Zwischen einem Bösendorfer von 1850 und einem Streicher von 1850 liegen Welten! Und deshalb bin ich so skeptisch, wenn Leute einfach hingehen und Chopin auf einem Erard von 1850 einspielen, nur weil es von der Zeit her ungefähr passt! Gerade weil die Instrumente so unterschiedlich sind, sollte man die höchste Akribie an den Tag legen, um die Flügel zu finden, die die Charaktere der Musik am besten unterstützen.

Chopin: Etude op. 25 Nr. 12 Allegro molto con fuoco

Nocturne op. 27 Nr. 2 Des-Dur

Alain Planès (Pleyel 1836) 2009

harmonia mundi

Da sind aber eine Menge Fehler drin. Und es fehlt mir die grundlegende Umsetzung des Charakters. Die Etüden sind wahrlich virtuos, und diese letzte ist als einzige betitelt: Allegro molto con fuoco. Da muss ein Feuerwerk zünden. Das ist auch auf einem Pleyel möglich, natürlich. Das Feuerwerk entsteht nicht durch Donnern, sondern durch Plastizität, durch Transparenz und durch den Geist, ich muss hören, dass da jemand ans Limit geht. Bei vielen Etüden ist eine unterschwellige Eleganz im Spiel, hier aber muss man gnadenlos an die Grenzen gehen, gerade an einem alten Flügel! Diese Aufnahme plätschert einfach so vor sich hin. Das ist die Planès-CD, die so außerordentlich gelobt worden ist? Über die habe ich viel gehört. Können wir mal etwas Lyrisches hören: Op. 27 Nr. 2 Des-Dur… Da verstehe ich fast nichts. Chopin ist DER Komponist für gebundenes Rubato: Die linke Hand spielt gleichmäßig eine Figur, die Rechte macht eine Melodie dazu. Die Kunst ist, rechts frei zu spielen, und die Linke bleibt ganz streng im Metrum. Dann sind die Töne versetzt, aber um ein übergeordnetes Ziel zu erreichen: das Ziel einer melodischen Freiheit bei gleichbleibendem Metrum. Hier jedoch sind zu viele Töne sinnfrei versetzt. Und dann, gerade dort, wo der Satz nach gebundenem Rubato schreit – vorher gibt es noch eine lange Note, die man überdehnen könnte, um das gebundene Rubato elegant einzuleiten –, ausgerechnet da spielt er jeden Ton zusammen. Das ist unbefriedigend.

Berg: Sonate op. 1

Alfred Brendel (moderner Flügel) 1982

aus: The Essential Alban Berg

Philips

Das Stück habe ich nie gespielt. Mit Berg habe ich mich bislang eher wenig auseinandergesetzt, das habe ich noch vor. Möglicherweise würde auch dieser Musik ein alter Flügel gut tun, ähnlich wie bei manchen Werken von Schönberg. Schönberg war ja ein großer Erfinder von Melodien, er hat zudem viel Tänzerisches, da finden Sie viele latente Walzergestiken. Zeitzeugen sagen über Schönberg: Nichts war ihm zart und lyrisch genug. Das kann man auf diesen späten Wiener Flügeln berückend schön machen. Mit diesen Flügeln ist Schönberg aufgewachsen. Meine Überzeugung ist, dass er nicht für einen bestimmten Klaviertyp schrieb, sondern dass er bestimmte Klangideen hatte. Zum Beispiel das Flageolett, die Idee ist von ihm, dass man Töne stumm anschlägt und hält, dann klingen sie irgendwann nach – das kann man mit einem obertonreichen alten Instrument phantastisch machen. Es gab unter den Komponisten der Wiener Schule zwei Richtungen: die einen vertraten die Philosophie, Konsonanzen bei der Reihenbildung möglichst zu vermeiden, die anderen waren dafür offen. Dazu gehörte Berg. Er dachte zwar in diesen Reihen, gestaltete sie aber so, dass Konsonanzen durchschimmern, Alban Berg komponierte mit Zwölf-Ton-Reihen und entfloh ihnen zugleich. Bevor ich Berg aber auf einem historischen Flügel spiele, müsste ich erst sehen, was er selbst darüber dachte. Wenn er gesagt hat: Für mich zählt nur der Steinway, würde ich versuchen, die Klangidee auf dem Steinway umzusetzen. Ich will durchaus im Sinne der Musik polarisieren, aber nicht gegen den Komponisten.

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