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INTERVIEW TZIMON BARTO

„Ein Stück muss sich vor mir ausziehen“

Warum der Schriftsteller und Pianist Tzimon Barto keine Regeln akzeptiert und sich doch einen Ordnungsfreak nennt

vonArnt Cobbers,

Seit einigen Jahren sorgt Tzimon Barto mit sehr ungewöhnlichen Aufnahmen von Rameau, Haydn, Schubert u.a. für Aufsehen. Bereits in den 80er Jahren hatte der Amerikaner eine große Karriere gemacht, dann war es um ihn ruhig geworden. Seit einer Weile ist er nun wieder häufiger in Deutschland zu erleben. Barto, der seinen Vornamen nicht englisch, sondern wie im Deutschen mit Betonung auf der zweiten Silbe ausspricht, ist ein unkomplizierter Gesprächspartner, der gern lacht, viel raucht und sehr gut Deutsch spricht.

Herr Barto, wo kommt Ihr Vorname her? 

Das ist ein Fantasiename. Ich bin geboren als Johnny Barto Smith jr., und jeder nannte mich Barto, weil mein Vater Johnny hieß. Als ich dann zur Juilliard School ging, sagte meine Lehrerin Adele Marcus eines Tages: Wie wäre es mit einem Künstlernamen? Sie überlegte eine Weile und meinte dann: Tzimon wäre ein schöner Name. Ich fand das auch und habe den Namen in meinen Pass eintragen lassen. Als sie ihn später auf einem Plakat sah, rief sie mich an und fragte: Hast du deinen Namen wirklich geändert? Das war doch nur ein Spaß. Aber wenn ich Bücher schreibe, bin ich Barto Smith.

Auf die Frage, ob die Musik das wichtigste in Ihrem Leben sei, haben Sie vor ein paar Jahren geantwortet: Erst kommt die Familie, dann die Literatur, dann die Musik.

Naja, inzwischen habe ich keine Familie mehr. Aber die Literatur ist mir wichtiger als die Musik, denn da bin ich kreativ im eigentlichen Sinne. Ich habe mit fünf angefangen zu musizieren. Ich mochte schon immer Musik mit Geschichten, ich habe Klavier gelernt, indem ich Opernauszüge gespielt habe, deshalb kann ich sehr gut vom Blatt spielen. Ich habe immer Opernpartituren gelesen, die Verbindung von Wort und Noten hat mich interessiert. Aber ich habe erst spät entdeckt, dass mich das Wort dabei mehr fasziniert hat als die Musik. Man kommt sehr spät zum Schreiben. Bis auf wenige Ausnahmen schreibt man nichts Gutes, bevor man 30 oder 40 ist. Ich habe begonnen, das Schreiben wirklich als Handwerk zu studieren, als ich Anfang 30 war.

Im Bereich der Musik sind Sie nur noch Pianist, oder?

Das Komponieren habe ich aufgegeben, ich habe meine Liebe zum Komponieren durch meine Liebe zur Literatur sublimiert. Einen Text zu schreiben ist für mich wie Komponieren. Aber angefangen habe ich als Dirigent, ich wollte natürlich Opern dirigieren. Ich habe an der Juilliard School studiert, ich habe Manon Lescaut an der Hamburgischen Staatsoper dirigiert, ich habe die Rundfunkorchester dirigiert, aber dann wollte ich nicht mehr. Ich wollte allein sein – obwohl ich gut mit anderen Musikern kann. Ich weiß nicht genau, warum. Swjatoslaw Richter hat auch nie erklären können, warum er aufgehört hat zu dirigieren, oder? Ich vermisse es ein bisschen. Ich liebe es, Sänger zu begleiten. Ich arbeite noch zusammen mit Matthias Goerne, mit Renée Flemming und jetzt mit Georg Nigl – der ist sehr lustig und sehr phantasievoll.

Sie wurden einmal gefragt, wer Sie als Künstler besonders beeinflusst hat. Ihre erste Antwort war: Christoph Eschenbach. 

Wir Amerikaner haben diese Neigung zu Celebrities, wir stellen Prominente gern auf einen Sockel. Ich komme aus Florida, ich hatte 18 Jahre in einer kulturellen Wüste gelebt. Ich kam also aus dem Nirgendwo, als ich Christoph Eschenbach in Tanglewood vorgespielt habe. Bis dahin hatten mich meine Lehrer immer nur kritisiert – was ein Lehrer ja auch tun muss. Aber dass nun ausgerechnet diese Berühmtheit mir sagte, ich sei gut, das war toll. Er hat mich sozusagen entdeckt und mir den Glauben an mich als Künstler gegeben. Man darf als Musiker nicht eitel sein, aber man muss an sich glauben.

Der zweite Name auf der Liste ist Montserrat Caballé. 

Sie ist für mich die größte Sängerin aller Zeiten. Ihre Farben, wie sie Phrasen entwickelt, da gibt es keinen Vergleich. Natürlich war die Callas etwas ganz Besonderes im Theater, aber rein von der Stimme her, von der Schönheit und der Phantasie, ist Montserrat Caballé für mich die Größte.

Dann haben Sie noch Horowitz genannt. 

Ich weiß nicht, wie es meinen Kollegen geht, aber ich mag keine anderen Pianisten. Was ich spiele, ist so persönlich, das will ich nicht von jemand anders hören. Eine Ausnahme ist Bach. Der spielt sich von allein, den kann man nicht umbringen, finde ich. Aber romantische Musik ist wie Sex, so persönlich ist das. Wenn sich ein Pianist nicht die Zeit nimmt, wo du dir Zeit nimmst, wenn jemand kein Decrescendo macht, wo du immer ein Decrescendo machst, dann stört das – ich bin nicht so liberal, dass ich andere Interpretationen dulden kann. Aber Horowitz mag ich. Ich mag diese dionysischen Impulse, er macht immer etwas Besonderes, das kitzelt mein Ohr, wenn er spielt. Und ich möchte überrascht werden, wenn ich etwas höre.

Der letzte Name auf der Liste ist Heinrich Schenker.

Ich habe die Schenker-Analyse studiert. Ich bin ein Freak, ich brauche Ordnung. Wenn ich im Badezimmer auspacke, muss meine Zahnbürste exakt so liegen, und meine Kleider sind in den Schränken nach Farben geordnet, mein Kühlschrank ist alphabetisch sortiert. Ich bin ein Ordnungsfreak – und deshalb befriedigt mich Schenker. Ich mag Analyse sehr gern. An Schenker hat mich fasziniert, dass man alles letzten Endes auf drei Akkorde reduzieren kann. Alles in der tonalen Welt entsteht aus der Entfaltung von drei Akkorden, damit habe ich mich lange beschäftigt.

Arbeiten Sie mit der Schenker-Analyse?

Wie kann man das? Ich verstehe nicht, wie man sie anwenden kann. Ich denke, je besser du ein Stück kennst, desto freier wirst du damit umgehen. Das war ein Problem, als ich anfing. Viele Kritiker haben mir vorgeworfen, ich würde versuchen, originell zu sein. Dafür loben die Kritiker Musiker, die langweilig spielen, als klar und mit Sinn für Struktur usw. Ich finde es nicht intellektuell, wenn man etwas stur geradeaus spielt, das hat nichts mit Interpretation zu tun.

Aber Sie wählen in letzter Zeit auffällig langsame Tempi, Sie gehen immer mehr mit der Lupe an Haydn, Schumann, Schubert. 

Ein Stück muss sich vor mir ausziehen. Mein Ton klingt länger als der von vielen anderen Pianisten. Und ich will diese Ruhe haben, langsame Tempi geben mir eine Ruhe, es muss wie eine Landschaft werden, wie eine Bruckner-Sinfonie, eine solche Atmosphäre versuche ich zu schaffen. Ich kann nur so spielen. Manches Stück kann ich einfach nicht schneller spielen. Aber mit dem ersten Satz der Sonate D 894 auf meiner Schubert-CD bin ich nicht mehr zufrieden, der ist zu langsam. Die anderen Sätze sind okay. Wissen Sie, früher hatte ich Angst, Risiken einzugehen. Es war mir wichtig, was die Welt über mich sagt, besonders die Fachleute. Aber nachdem mein Sohn gestorben war, war mir das plötzlich egal.

Hatten Sie schon immer ein Talent für Klangfarben oder haben Sie daran besonders gearbeitet?

Meine Lehrerin war sehr konservativ. Sie kam aus der russischen Schule, wo man nie zu leise spielen darf, es muss immer weit tragen. So habe ich auch lange gespielt. Heute finde ich, das hört sich alles technisch brillant an, aber irgendwie flach. Erst mit Anfang 30 habe ich angefangen, wieder so zu spielen, wie ich es ganz früher wollte. Aber was ich meiner Lehrerin zugestehen muss: Sie hat mir einen schönen Klang gegeben. Das ist, als würde man Ballett studieren. Man geht nicht einfach so, man muss lernen, wie man geht. So ist es auch am Klavier. Man muss lernen zu singen. Und ein Fortissimo so zu spielen, dass es den Ohren nicht weh tut.

Warum spielen Sie seit einigen Jahren nur noch aus den Noten?

Ich habe früher immer auswendig gespielt. Aber vor fünf Jahren habe ich Kollegen gefragt: Kannst du mir sagen, wo welcher Akzent im Notentext steht? Keiner konnte das. Ich habe sie gefragt: Sind die Akzente, die dynamischen Bezeichnungen usw. weniger wichtig als die Noten? Alle sagen: Sie sind genauso wichtig. Aber niemand kümmert sich um sie. Das ist ein Verbrechen, finde ich. Wenn du die Noten vor dir hast, siehst du diese ganzen Angaben.

Aber Sie könnten doch mit den Noten arbeiten und ohne auf die Bühne gehen. 

Soll man so viel Zeit darauf verwenden, all diese Akzente auswendig zu lernen? Dafür ist das Leben zu kurz. Außerdem beschäftigst du mehr Teile deines Gehirns, wenn du die Noten benutzt. Du stehst in einem Dialog mit dem Komponisten, wenn seine Noten vor dir stehen. Ich werde viel kreativer.

Gehen Sie mit einem ganz genauen Plan auf die Bühne?

Ja, ich weiß exakt, was ich will. Die Bühne bringt mich dazu, zu übertreiben, weil ich ein Performer bin. Wenn ich das Publikum spüre, kommt dieser Ur-Impuls, dass man etwas mitteilen will, dass man mit mehr Emphase spielt. Aber ich glaube nicht an die Inspiration des Moments. Oder nur in Grenzen: Ich sage natürlich nicht nein zur Muse, wenn sie kommt. Ich trage bis ins kleinste Detail in meine Noten ein, was ich tue.

Sie sind vermutlich der einzige Bodybuilder unter den Musikern. Es heißt doch immer, dass die Feinmotorik leidet, wenn man viele Muskeln aufbaut.

Bei mir war das nie ein Problem. Die Leute glauben immer, wer Bodybuilding macht, ist ein Narzist. Ich möchte, dass mein Körper so aussieht, wie er aussieht, das ist mein Ideal. Aber das ist nur mein Körper, nicht mein Ich. Das ist so, wie ein Banker sich jeden Tag seinen Anzug mit Krawatte anzieht. Ich bin nicht mein Körper, ich habe einen Körper. Mein Ich ist mein Geist, daran glaube ich.

Sie haben in Ihren Rezitalprogrammen lange immer wieder ein Werk von George King gespielt. Wer ist das?

Ein junger englischer Komponist. Es gibt in der Kleinstadt, in der ich lebe in Florida, in Eustis, ein Kulturinstitut, und auf die Anregung der Leiterin hin mache ich dort alle zwei Jahre einen Wettbewerb für junge Komponisten. Aus den über hundert Einsendungen wähle ich zwölf aus und schicke die dann an drei Juroren, darunter waren schon Aribert Reimann, Wolfgang Rihm, Tobias Picker. Die bestimmen den Sieger, und der bekommt nicht nur die Uraufführung, sondern ich spiele das Stück zwei Jahre lang in jedem Rezital – das ist ein guter Preis. Die Piano Etudes von George King sind ein phantastisches Stück – und es kommt gut an beim Publikum.

Sie schreiben seit langem an einem Riesenwerk, „The Stelae“, das Tausende Gedichte umfassen soll. Wann werden Sie das abschließen?

Das wird noch ungefähr zwölf Jahre dauern. Und dann wird es als Installation aufgerichtet werden. Es ist nicht nur Literatur. Es steht auch ein visuelles Konzept dahinter. Ich habe ein sehr großes, flaches Grundstück in Florida, das ich dem Staat als Park schenken werde. Dort werde ich 3367 Stelen aus Granit spiralförmig einpflanzen, und in manche Steine werden Löcher eingebohrt – wenn der Wind darüber geht, hört man die Obertonreihe. Die Steine singen. Das Werk besteht aus zwei großen Teilen: aus Gedichten und aus zwölf großen Romanen. Und auf jeden Stein kommt ein Kapitel  aus einem Roman oder ein Gedicht.

Wann kommen Sie zum Schreiben?

Wenn ich aufstehe, gehe ich eine halbe Stunde ins Gym. Dann studiere ich Chinesisch für zwei Stunden und dann übe ich, zwei Stunden höchstens. Und dann schreibe ich: sechs, acht Stunden. Und am Ende des Tages lese ich etwas in meinen Sprachen, jeden Tag, damit ich mir die erhalte: Griechisch, Latein, Deutsch, Französisch, Italienisch, auf Deutsch lese ich gerade Thomas Bernhard. Mein Tag hat 18 Stunden, und dann brauche ich acht Stunden zum Schlafen. Das heißt, mein Leben verschiebt sich jeden Tag weiter nach hinten.

Wie geht das, wenn Sie auf Konzertreise sind?

Es geht. Ich habe meine Bücher und meinen Computer dabei. Gut, ich muss zusehen, dass ich abends fit bin, wenn ich ein Konzert gebe. Aber es geht. Meine Lebensgefährtin reist oft mit mir, sie ist auch Schriftstellerin.

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