Was zeichnet für Sie ein besonders gutes Publikum aus?
Gerald Mertens: Treue, Begeisterungsfähigkeit und das Verlangen nach Nähe zu den Künstlerinnen und Künstlern. Letzteres wird zum Beispiel besonders deutlich, wenn Mitglieder des Publikums „ihr“ Orchester auf eigene Kosten bei internationalen Konzertreisen begleiten.
Ist es richtig von „dem“ Publikum zu sprechen oder gibt es Unterschiede?
Mertens: Streng genommen gibt es nicht „das“ Publikum, sondern verschiedene Publikumsgruppen, die vorrangig durch die zielgruppenspezifische Programmatik eines Konzert- oder Opernhauses oder eines Orchesters angesprochen werden. Das Publikum eines Kinder- oder Familienkonzerts unterscheidet sich deutlich von dem eines normalen Sinfonie- oder Kammerkonzerts. Und überhaupt: In jeder Veranstaltung setzt sich das Publikum völlig neu zusammen. Je höher dabei der Anteil von Abonnenten ist, desto größer ist auch die wechselseitige Vertrautheit und Bindung untereinander.
Inwiefern ist der Erfolg eines Konzerts vom Publikum abhängig?
Mertens: Im Grunde genommen ist er ausschließlich vom Publikum abhängig. Ohne Publikum keine Öffentlichkeit, ohne Öffentlichkeit kein Konzert. Kurz: Ohne Publikum ist alles nichts.
Welches Publikums-Erlebnis ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Mertens: Die Saisoneröffnung der Berliner Philharmoniker 2018/2019 unter Kirill Petrenko in der Berliner Philharmonie: Sowohl im Orchester als auch im Publikum herrschten eine extrem hohe Spannung und Erwartungshaltung, die sich einerseits in einer auch für ein Spitzenorchester künstlerisch wirklich überragenden Leistung und andererseits in riesigen Ovationen eines euphorisierten Publikums entluden.
Ärgern Sie sich auch manchmal über das Publikum?
Mertens: Ich ärgere mich gelegentlich über einzelne Zuhörer, die während eines Konzerts nicht auf den Blick auf ihr Mobiltelefon verzichten können, die vorschnell in einen spannungsgeladenen Pianissimo-Schluss hineinklatschen oder die sich zwanghaft bemühen, bei Standing Ovations unbedingt die ersten sein zu wollen.
Was nervt Sie am Publikum?
Mertens: Eigentlich nichts. Wenn allerdings ein Publikum „genervt“ ist, kann das ein Zeichen sein für eine suboptimale Dramaturgie eines Konzertprogramms oder eine suboptimale Performance auf der Bühne. Ein gutes Publikum spürt das: Ist das Konzert ein bloßes Vorkommnis, bei dem man nach einer Woche schon nicht mehr weiß, was gespielt wurde oder wie der Solist hieß, oder ein echtes Ereignis, welches lange in Erinnerung bleibt und von dem man begeistert seinen Freunden erzählt?
Worauf wollen Sie als Jurymitglied bei der Bewertung eines Publikums achten?
Mertens: Auf die bereits genannten Kriterien: Treue, Begeisterungsfähigkeit und Verlangen nach Künstlernähe.
Was müsste ein Publikum tun, damit Sie als Jury-Mitglied bestechlich in ihrer Entscheidung werden?
Mertens: Ich denke, die Jurymitglieder sind nicht bestechlich, sondern sie bringen aus ihren unterschiedlichen Erfahrungshorizonten des Musiklebens und Konzertbetriebs die Aspekte ein, die am Ende zu einer mehrheitlich getragenen Entscheidung für das „Publikum des Jahres“ führen.
Wenn Sie selbst im Zuschauerraum sitzen: Genießen Sie das Konzert als Teil des Publikums oder fühlen Sie sich heimlich als „Externer“?
Mertens: In einem Konzert hört letztlich jeder für sich allein, so dass es in einem ausverkauften Saal mit 2000 besetzten Plätzen auch 2000 unterschiedliche Konzerteindrücke gibt. Einzigartig und wahrhaft überwältigend sind die Momente, in denen sich die künstlerische Energie von der Bühne auf die Zuhörer überträgt und durch spürbare Konzentration, steigende Spannung und Schlussapplaus auf die Bühne zurückwirkt. Das sind seltene Flow-Erlebnisse, bei denen die individuellen Hörerlebnisse zu einer kollektiven Publikumserfahrung werden.