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Das Publikum des Jahres 2020: Juryvorsitzende Carolin Widmann

„Länge und Lautstärke des Beifalls sind keine Parameter für den Erfolg“

Die Jury zum Publikum des Jahres 2020 ist prominent besetzt. Den Vorsitz in diesem Jahr übernimmt die Violinistin Carolin Widmann.

vonSusanne Bánhidai,

Was zeichnet für Sie ein besonders gutes Publikum aus?

Carolin Widmann: Es gibt bestimmt nicht das eine Kriterium, was ein gutes Publikum ausmacht. Nicht husten oder absolute Stille sind eher zweitrangig. Mir ist ein Publikum wichtig, das mit Offenheit und Neugier zuhört. Das vermittelt sich oft schon vor dem Konzert beim Begrüßungsapplaus. Und ein Publikum ist dann gut, wenn es in der Lage ist, seine Begeisterung zu zeigen. Das muss aber nicht durch Lärm sein.

Ist es richtig, von „dem“ Publikum zu sprechen, oder gibt es Unterschiede?

Widmann: Die Stimmung bei einer Matinee ist natürlich ganz anders als bei einem Nachtkonzert. Es kommt auch sehr darauf an, was man gespielt hat. Wir wissen ja alle, in welche Stimmung uns Musik versetzen kann. Lausche ich kleinen virtuosen Stücken oder einer einstündigen Mahler-Sinfonie? Das Publikum reagiert auch regional sehr unterschiedlich. In Südamerika geht es auch manchmal etwas lauter zu, aber das heißt nicht, dass die Menschen das Konzert weniger wertschätzen.

Welche Rolle spielt das Publikum bei der Bewertung Ihres Spielerfolges?

Widmann: Da sind die Reaktionen für uns Künstler manchmal trügerisch. Man könnte ja denken, je häufiger man heraus geklatscht wird oder je lauter das Publikum applaudiert und „Bravo“ schreit, desto besser hat es gefallen. Doch wir kennen alle diese Stücke, die uns so erschüttern, dass man eigentlich gar nicht klatschen möchte und sehr still nach Hause geht. Oder diese Konzerte, nach denen einem der Kloß im Hals steckt und erst nach Minuten der Enthusiasmus ausbricht. Länge und Lautstärke des Beifalls sind also keine Parameter für den Erfolg. Das Hören ist ja auch so subjektiv. Daher möchte ich mich als Künstlerin von den Aktionen des Publikums ein bisschen freimachen, was sehr schwer ist.

Der coronabedingte Shutdown zog eine sehr lange Zeit ohne Publikum nach sich. Was genau hat Ihnen da gefehlt?

Widmann: Das war eine sehr interessante Erfahrung für mich. Natürlich wissen wir Künstler das Publikum zu schätzen. Aber als wir es dann nicht mehr hatten, habe ich gemerkt, dass mein Beruf, wie ich ihn bisher ausgeübt habe, absolut sinnlos ist, wenn ich kein Gegenüber habe. Nicht, weil ich eine lobende Reaktion will, sondern weil ich überhaupt ein Gegenüber brauche. Ich erzähle eine Geschichte und keiner hört mir zu: Das ist das Katastrophalste für mich in meinem Beruf. Diese kleinen, zarten Konzerte mit wenig Publikum sind jetzt so wertvoll wie noch nie etwas in meinem beruflichen Leben. Ich habe das Gefühl, ich spreche zu jedem einzelnen persönlich und spüre so eine Dankbarkeit und Konzentration. Tatsächlich hustet nie jemand! Das erste Konzert, das ich wieder vor Menschen geben durfte, konnte ich vor lauter Emotionalität kaum spielen. Ich war so berührt, dass da jetzt Menschen waren, die mir zuhören wollen – und das war beim Publikum ganz ähnlich. Das Live-Moment kann man nicht ersetzen.

Ärgern Sie sich auch manchmal über das Publikum?

Widmann: Ja, meistens dann, wenn ich Neugier und Offenheit vermisse. Ich spiele viel Neue Musik und wenn dann Menschen nach den ersten dreißig Sekunden eines Stücks Türe knallend den Saal verlassen, sollte mich das nicht stören! Aber mir tun diese Menschen leid, die nach so kurzer Zeit ihr Urteil gefällt haben. Wir alle kennen das doch, dass man meint, ein schlechtes Buch zu lesen, und dann kommen irgendwann dreißig gute Seiten. Wenn ich das Buch schon vorher beiseite lege, verpasse ich diese schönen Seiten. Wenn man ins Konzert geht, sollte man der Musik eine Chance geben. Hinterher kann man ja immer noch dafür entscheiden, dass man ein Stück nicht mag.

Worauf wollen Sie als Jurymitglied bei der Bewertung eines Publikums achten?

Widmann: Wie so oft im Leben und in der Musik ist mir die Authentizität sehr wichtig. Ein Publikum, das uns nur gefallen will und uns sagt, was wir hören wollen, finde ich uninteressant. Das Publikum sollte überzeugend darlegen, wofür es sich begeistert. Auch neue Aspekte möchte ich hören, dass also ein Publikum Argumente liefert, an die ich noch gar nicht gedacht habe.

Was müsste ein Publikum tun, damit Sie bestechlich in ihrer Entscheidung werden?

Widmann: Ich hoffe, dass ich ganz unbestechlich sein werde. Natürlich hat man immer irgendwelche Vorlieben. Zum Beispiel bin ich besonders neugierig auf das Publikum, das ich noch gar nicht kenne! Das macht Deutschland ja auch aus, die Vielfalt der Veranstalter von Linsburg bis Aschaffenburg. Diese Vielfalt sehe ich durch die Corona-Krise stark gefährdet.

Wenn Sie selbst im Publikum sitzen, genießen Sie dann als Teil des Publikums die Musik oder fühlen Sie sich beruflich gefordert?

Widmann: Ich lasse mich nicht von meinem professionellen Zynismus überwältigen, ganz im Gegenteil. Gerade in meiner Tätigkeit als Hochschullehrerin höre ich bei Aufnahmeprüfungen viel Musik und bekomme gerade jetzt eine Gänsehaut. Ich bin sehr empfänglich für Momente, die mich berühren, je länger ich meinen Beruf mache. Musik ist etwas, das so viel Trost und Hoffnung geben kann. Als Publikum bin ich bei Fehlern auch sehr großzügig. Jemandem, der eine große Aussage macht, vergebe ich alles.

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