Die Klage über die „Verwilderung des Publikums“ ist so alt wie die Maxime des „Bildungstheaters“ oder der „Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“. Das galt natürlich nicht für den höher gebildeten, umfänglich kultivierten Prototyp der Konzert- und Opernbesucher vor dreißig Jahren. Heute dagegen empfiehlt sich der grammatikalisch korrekte, aber kaum verwendete Plural „Publika“ (lat. „Öffentlichkeiten“). Trotz Besucherumfragen bleibt „das“ Publikum für Veranstalter ein unberechenbares Wesen.
Das Bachfest Leipzig ist nur eines unter einer Vielzahl von Festivals, bei denen man Fragebögen austeilt und auswertet. Daheim vor den Bildschirmen oder Live-Streams haben Zuschauer mit Kommentar-Formularen weitaus offenere Möglichkeiten zur Artikulation als Live-Teilnehmer von Opern und Konzerten. Denn diesen bleiben neben Applaus (oder Applaus-Verweigerung), Bravo-Rufen (oder das Zischen bzw. Buhen) nur der Leserbrief oder Einträge ins Besucherbuch als Kanal für Kritik und Kommentar. Begeisterung zeigt sich im Jubelorkan, als rhythmisch gestoßenes Klatschen – oder im verhaltenen Schweigen, was dann meistens am bedrohlichen Thema oder der menschlichen Erschütterung liegt.
Informiertes Publikum
Das Publikum ist heute informierter, deshalb wählerischer und strenger, in der Fülle der Angebote manchmal aber auch ratlos. Noch nie gab es so häufig Übertitel, Einführungen, Publikums- und Podiumsdiskussionen oder neugierig und lustvoll wahrgenommene Rahmenprogramme. Trotzdem hat diese Bildungsneugier auf Vertiefung die sinnliche Freude an Kunst und die Sehnsucht nach großen Gefühlen weder verdrängt noch ersetzt. Kay Kuntze, seit acht Spielzeiten Generalintendant des Theaters Altenburg-Gera, ist nur einer von vielen Verantwortlichen, die aus dem Verhalten der „Publika“ Inspirationen für künstlerische und konzeptionelle Strategien beziehen, die Entdeckungen mit einschließen.
Nach einer Phase der Fokussierung auf Unterhaltung, die eine Reaktion auf die Maxime „Leeres Theater ist gleich gutes Theater“ und die Angst von Schließungen war, bemerkt er in seinen Spielstätten den an steigenden Zuschauerzahlen messbaren Zuspruch für Zyklen wie die Reihe „Wider das Vergessen“ über die Desaster vor 1945. Solche spannenden Spielpläne und Trends wie die innovative Wertschätzung der Operette wären ohne interessierte „Publika“ schwerlich denkbar. Deshalb sind reale und virtuelle Zuschauer genauso preiswürdig wie die Künstler auf der Bühne und den Podien.