Eine Roulettekugel steht auf der schwarzen 20, das Jahresmotiv ist perfekt: Die Dresdner Musikfestspiele, einst ausgerechnet im Tal der Ahnungslosen von der DDR gegründet und schnell zu internationalen Ehren gekommen, steht in diesem Jahr unter der Überschrift „Goldene 20er“, womit ausdrücklich nicht nur das frühe 20. Jahrhundert gemeint ist, der das Motto entlehnt wurde. Die Historienzählung beginnt schon mit der Geburt der Oper 1620, setzt sich fort mit der Blütezeit der Bachschen Musik um 1720, Beethoven und Schubert befruchteten die 1820er Jahre, bis schließlich die sagenumwobenen „echten“ Güldnen kamen.
Originalklang für Strauss im festivaleigenen Orchester
Wer das ein bisschen bemüht, vielleicht auch beliebig findet, liegt sicher nicht ganz falsch, denn man könnte natürlich das diesjährige Programm sehr gut auch unter den theoretischen Titeln „Silberne 30er“ oder „Bronzene 10er“ verkaufen. Auftrumpfen kann die Dramaturgie des Festivalintendanten Jan Vogler aber allemal. Die aufgerufenen Namen lesen sich edel wie eh und je: Mit Riccardo Chaillys Gewandhausorchester, dem Mahler Chamber Orchestra mit Daniele Gatti, Philippe Herreweghe und dem Collegium Vocale Gent oder Daniel Barenboim mit seiner Staatskapelle Berlin bekommt man vermutlich jedes Haus voll. Dazu kommen exquisite Solisten wie Thomas Hampson, Matthias Goerne oder Ute Lemper. Abgesehen von diesen Kassenknüllern wagen die Dresdner Musikfestspiele aber wiederum den Ausflug in die Welt der Fragezeichen, des Neuen, wollen nah dran sein am Rest der weit entfernten Welt. Das vor drei Jahren ins Leben gerufene Dresdner (Originalklang-) Festspielorchester, das Vogler vor allem deswegen schätzt, weil er die Projekte vor Ort selbst produzieren kann, würdigt den diesjährigen Jubilar Richard Strauss mit der Wiederentdeckung der in Dresden uraufgeführten Feuersnot. Außerdem steuert es Beethovens Missa solemnis bei, durchaus Meilenstein der 1820er Jahre.
Labor „Bohème 2020“: Künstler aller Sparten treffen aufeinander
Den größten Coup hat sich Jan Vogler aber für einen Blick auf die Zukunft aufgehoben. Mit seiner unnachahmlich redegewandten Art beklagt er nämlich nichts weniger als die kreative Hasenfüßigkeit der neuen Zeit: „In den letzten Jahren hat unsere Gesellschaft kontinuierlich am Wohlstand, am Aufbau gearbeitet, aber sie hatte wenig Kraft zur Inspiration.“ Die Rettung sind die neuen Bohèmiens, junge Künstler aus allen Sparten, angelehnt an Puccinis Oper. Unter dem Titel „Bohème 2020“ lädt sie Vogler zwei Wochen lang nach Dresden ein und gibt ihnen programmatisch freie Hand. Die Festspiele stellen lediglich Bühnen, Equipment und Instrumente. „Laufen lernen müssen sie dann selbst“, erklärt der umtriebige Cellist seine Erfindung.
Tänzer, Komponisten, Schauspieler und Musiker aus aller Herren Länder, zwei davon aus Dresden, sollen gemeinsam Projekte entwickeln, mit den „großen“ Künstlern, aber vor allem mit dem Publikum ins Gespräch kommen, die leeren Bühnen zwischen den Hochglanz-Events mit eigenen Ideen beleben. Sie sollen selbst nachdenken, kreieren, einstudieren, sich vernetzen und letztlich auch bewerben. Per Twitter und Facebook werden sie mit Unterstützung der Festivalinfrastruktur ihre Performances, so heißt das ja dann wohl in modernem Deutsch, selbst anpreisen.
Was bringt das den Festspielen? Inspiration ist das Zauberwort, auf das der Festspielintendant immer wieder abhebt. „Neue Wege gehen, am Puls der Zeit bleiben.“ Darüber hinaus gibt es ganz handfeste Überlegungen: Denn natürlich will Jan Vogler über diesen Umweg auch die Off-Off-Kulturszene für die Festspiele erreichen. Ist das der „Blick auf die Zukunft“, den Nachwuchs unkuratiert machen zu lassen, was er will? Vogler meint: „Förderung junger Künstler riecht oft sehr stark nach Alibi unter dem Motto, seht her, wir tun auch was. Bei uns lernen sie, selbst Initiative zu zeigen, sich aus eigener Kraft ins Rampenlicht zu stellen.“
Natürlich sei damit auch eine gewisse Art von Exhibitionismus verbunden, aber er habe junge Leute ausgewählt, die damit schon Erfahrung hätten, sich immer wieder neu zu erfinden. „Sie müssen kommunizieren, das ist eine Botschaft letztlich an alle“, sagt Vogler und klingt damit, vermutlich gewollt, wie ein Prophet.
Die Festivaldaten im Überblick:
Zeitraum: 23.5. – 10.6.2014
Ort: Dresden
Künstler: Daniel Barenboim, Matthias Goerne, Sabine Meyer, La Folia Barockorchester, John Eliot Gardiner, Hilary Hahn, Cameron Carpenter u.a