Es ist wirklich ein Jammer: Die Wiedereröffnung der Kulturstätten steht auch in Sachsen kurz bevor oder hat sogar – wenngleich unter Auflagen – bereits begonnen. Sein früher Termin im Juni hat nun dem Leipziger Bachfest, seit der Jahrtausendwende Treffpunkt der internationalen Barockszene, einen Strich durch die Rechnung der Präsenzkonzerte gemacht. Denn die leben seither an der Hauptwirkungsstätte des berühmten Thomaskantors vor allem von der Authentizität des Ortes, von der Weltoffenheit der einst bedeutenden Messestadt, deren größte Errungenschaft noch immer der kulturelle Reichtum ist – wohlgemerkt angehäuft vom stolzen, kaufkräftigen Bürgertum und nicht protegiert von irgendwelchen Fürstenhäusern wie in den Residenzstädten.
Digitale Erlösung
„Erlösung“ hatte Bachfest-Intendant Michael Maul als Motto für dieses Jahr ausgerufen, und doch musste er sich den Reisewarnungen geschlagen geben, die sowohl den internationalen Künstlern das Leben schwer machen als auch dem nicht weniger kosmopolitischen Publikum den Weg versperren. Aber es gibt einen Trost: Bachs Musik, die auf empfängliche Seelen selbst fast schon wie der erlösende Heiland wirkt, soll digital aus Thomas- und Nikolaikirche Erbauung stiften. War zwischenzeitlich noch eine wenigstens kleine Beteiligung von Live-Publikum geplant, schied diese Möglichkeit mit dem Umbau der Programmkonzepts doch aus.
Denn in der Planungsunsicherheit des Frühjahrs, als unklarer denn je war, ob Kultur im Frühsommer überhaupt würde stattfinden können, hatte der Intendant, gleichzeitig Professor für Musikwissenschaft und hoch angesehener Bachspezialist, einen eigenen Zyklus unter dem Titel „Bachs Messias“ kreiert, der eine fortlaufende Geschichte erzählt und dafür mehr als dreißig ausgewählte Kantaten, die Matthäus-Passion und drei Oratorien aus Weihnachts-, Oster- und Himmelfahrtszeit vereint. Ulrich Noethen sollte die zugrunde liegenden Evangelientexte lesen, so dass sich eine kontinuierliche Biografie Jesu Christi ergibt.
Ein neuartiges musikalisches Evangelium
Weil all das vor Publikum nun gerade noch nicht möglich ist, bearbeitete Maul sein Manuskript kurzfristig, damit die nun gestreamten zwölf Konzerte an fünf Tagen nicht länger als siebzig Minuten dauern, und stellte so eine digital rezipierbare Fassung her. Die durchaus selbstbewusst verkündete Ambition ist groß: Michael Mauls Bachfest will mit originaler Musik ein neuartiges musikalisches Evangelium schaffen, das es möglicherweise sogar in den bestehenden Bachkanon schaffen soll.
Ob dieser Plan aufgeht, darauf darf man gespannt sein. Vielversprechend ist die aufgebotene Künstlerriege aus internationalen Bachinterpreten allemal. Mit Ton Koopman, Masaaki Suzuki, Hans-Christoph Rademann oder Wolfgang Katschner tritt die Weltspitze an, den Schluss bildet ein Abschlusskonzert mit dem Thomanerchor unter der Leitung seines scheidenden Thomaskantors Gotthold Schwarz. Ob dessen berühmtem Vorgänger die Neuerfindung seiner Musik gefallen würde, dürfen nun zuallererst die Fans vor den Bildschirmen beurteilen.