Sein Herz ruht auf eigenen Wunsch in der Warschauer Heilig-Kreuz-Kirche. Besser kann die enge Verbindung, die Frédéric Chopin immer zu seiner Heimat Polen aufrecht erhielt, nicht symbolisiert werden. Geboren wurde er zwar nicht in der polnischen Hauptstadt, sondern gut 50 km entfernt, doch bereits in seinem ersten Lebensjahr zogen seine Eltern nach Warschau. Hier wurde er als Wunderkind gefeiert, hier lernte er alles über Musik. Eigentlich erstaunlich, dass ihn seine Stadt erst seit 2005 mit einem eigenen Festival ehrt. In Paris und Valdemossa gibt es schon seit mehr als dreißig Jahren Festivals zu seinem Gedenken. Und in Nohant, wo er komponierend mehrere Sommer verbrachte, gar seit über 40 Jahren.
Ein wahrer Europäer: Chopin und die Verbindung der Traditionen
Dass man in Warschau mit dem Festival so lange gewartet hat, hat sich aber gelohnt: So gründete es sich in einer Zeit, in der man Chopin nicht nur als den bedeutendsten polnischen, sondern vor allem auch als einen großen europäischen Komponisten wahrnehmen konnte. „Chopin and his Europe“ hat man das Event daher getauft – und wählt stets zwei Schwerpunkte: Den polnischen Musiker, von dem aus man den Blick auf viele weniger bekannte Landsleute richten kann, und den in Paris lebenden Europäer, der im Nabel der damaligen Musikwelt Trends setzte und viele Zeitgenossen und Nachfolger beeinflusste. Wie kaum ein anderer steht Chopin ja für zwei einander widerstrebende Tendenzen in der Musik des 19. Jahrhunderts: Die (Wieder-)Entdeckung nationaler Eigenarten in der Musik einerseits und die Verbindlichkeit eines einzigen, auf dem ganzen Kontinent gepflegten „klassischen“ Stils andererseits.
In diesem Jahr begeht man beim Chopin-Festival den 100. Geburtstag von Andrzej Panufnik, eines Landsmanns, der wie Chopin den größten Teil seines Lebens im Exil verbrachte. Man erinnert zum Beispiel an Michal Kleofas Oginski, der lange vor Chopin die Polonaise bekannt machte, oder an Jozef Krogulski, der wie der nur fünf Jahre ältere Chopin seinerzeit als Wunderkind gefeiert wurde. Gleichzeitig erweist man den nordischen Komponisten der Chopin-Zeit die Ehre. Dem fast vergessenen Norweger Thomas Dyke Ackland Tellefsen etwa, der nach Chopins Tod einige von dessen Schülern übernahm.
Ein dritter Aspekt hat das Festival von Anfang an begleitet: Der historischen Aufführungspraxis wird eine herausgehobene Position eingeräumt. Während sie für die Barockmusik inzwischen zum Normalfall geworden ist, ist sie für die Klaviermusik des 19. Jahrhunderts immer noch wenig verbreitet, obwohl sich die Klaviere der Chopinzeit vom modernen Flügel mindestens so sehr unterscheiden wie Flöte, Oboe oder Geige. In diesem Jahr erlebt Griegs Klavierkonzert seine polnische Erstaufführung mit historischen Instrumenten.
Ein Kammerkonzert am heiligsten Ort der Chopin-Verehrung
Natürlich sind aber auch die Stars der internationalen Klavierszene in jedem Jahr beim Festival zu Gast. Dieses Mal ist neben Künstlern wie Olli Mustonen, Andreas Staier oder Maria João Pires auch Yulianna Avdeeva zu bestaunen, die 2010 als erste Frau seit Martha Argerich den Warschauer Chopin-Wettbewerb gewann.
Fast alle Konzerte finden in den großen Warschauer Konzertsälen statt, in denen der Meister selbst sich wohl ganz verloren vorgekommen wäre: „Ich eigne mich nicht dazu, Konzerte zu geben“, sagte er einmal zu Franz Liszt. „Das Publikum schüchtert mich ein, sein Atem erstickt, seine neugierigen Blicke lähmen mich, ich verstumme vor den fremden Gesichtern“. Ihm kommt man wohl am heiligsten Ort der Chopin-Verehrung am nächsten: An seinem Herzen, wo ein Kammerkonzert stattfindet.
Die Festivaldaten im Überblick:
Zeitraum: 15.8. bis 31.8.2014
Ort: Warschau
Künstler: Alexander Melnikov, Dejan Lazić, Krzysztof Urbański, Jan Lisiecki, Stephen Isserlis, Andreas Staier, Olli Mustonen, Concerto Köln u. a.
Was es im Bereich Festival außerhalb von Warschau zu entdecken gibt, stellen wir Ihnen in unserem Festivalguide vor.