Spielt man hier oben anders? Und vor allem: Hört man Musik hier oben anders – in der höchstgelegen Stadt Europas? Alljährlich kommen herausragende junge Musikerinnen und Musiker in die Schweizer Alpen und mischen das Skiparadies, das im Sommer zum Wanderparadies mutiert, gehörig auf. Viele Gäste – neugierige Ohrenmenschen aller Altersklassen – kommen seit Jahrzehnten nach Graubünden, weil sie in Davos ein so unerhört ungewöhnliches Programm von so exzellenten wie maximalmotivierten Interpreten erleben können. Denn kaum ein Festival ist in seinem Programm im besten Sinne so exklusiv: Denn hier gibt’s eben keine gut abgehangenen Tourneeprogramme von den immergleichen Starsolisten auf die Ohren, was die internationale Festspielkonkurrenz zunehmend austauschbar macht. Was hier zu hören ist, wird auch in luftigen Bergeshöhen einstudiert. Und das ist neben Bach und Brahms und Bruckner vor allem Musik, die von Menschen geschrieben wurde, deren Namen selbst Experten kaum kennen. Wer war Rebecca Clarke? Wer Amy Beach? Kennen Sie Edison Denisow? Intendant Marco Amherd hat für das Motto des Jahrgangs 2021, es lautet „Aequalis“, Damen und Herren der komponierenden Zunft aufgespürt, die zu (wieder-)entdecken nicht nur lohnt, sondern in jedem Konzert des Eröffnungswochenendes schlichtweg begeisterte.
Weibliche Töne unter Männernamen
Da Gleichberechtigung zwar bereits in ihrer Jugend eingefordert wurde, aber keineswegs auch nur ansatzweise Realität war, musste Rebecca Clark – die Engländerin lebte von 1886 bis 1979 – ihre Kompositionen zunächst unter Männernamen verstecken und unter Pseudonym veröffentlichen. Ihre „Sonate für Viola und Klavier“ aus dem Jahr 1919 stand im Eröffnungskonzert als erstes auf dem Programm. Da mischt sich ein spätromantisches Idiom mit dem seinerzeit brandaktuellen Impressionismus, Clarke würzt beides mit starken Melodien und folkloristischen Motiven. So ergibt sich ein ganz persönliches Amalgam, das selbstverständlich neben den männlichen Komponisten ihrer Zeit bestehen kann, dies freilich nicht durfte. Amadeus Wiesensee am Flügel und Mathis Rochat an der Viola waren nun die überzeugungskräftigen Anwälte von Clarke. Der satte und dennoch subtile Bratschenton des 1994 in Genf geborenen Musikers hat im Adagio wunderbare poetische Imaginationskraft.
Der junge Henze: zornig wie schönheitssüchtig
Clarkes „Klaviertrio a-Moll“ aus dem Jahr 1921 beschloß auch den ersten Abend. Das Trio Marvin spielte es extra fein ausgehört mit herrlichen Schattierungen und Farbvaleurs – und demonstrierte ganz nebenbei, dass die vorurteilsvolle Dominanz des Klaviers im Trio, das dessen Namen trägt, doch nur ein alter Hut ist. Drei gleich starke und entsprechend gleich berechtigte Partner sind hier am Werk. Auch die „Kammersonate“, die der 22 Jahre junge Hans Werner Henze 1948 schrieb, adelte das vorzügliche Trio gleichsam sottilissimo. Die aphoristisch kurzen Sätze, die einen gleichermaßen zornigen wie schönheitssüchtigen Jungmeister Henze zeigen, ging es mit extra feiner Dichte an. Lustvolle (noch relativ) neue Musik von Edison Denisow stand zwischen Henze und Clarke. Seine „Sonate für Altsaxophon und Klavier“ aus dem Jahr 1970 war dank Amit Dubester am Sax und Alice Burla am Steinway in den besten Händen. Die vertrackten Spieltechniken für das Saxophon, all die verrückten und virtuosen Momente waren eine wahre Freude – wie auch die gesamte Abfolge des Eröffnungskonzerts mit seiner schmackhaften Abfolge ganz unterschiedlicher Besetzungen und Formationen.
Brahms und seine heimliche Schwester
Auch tags darauf kam man aus dem Staunen nicht heraus, als wiederum im Saal des feinen Hotel Schweizerhof Morosani Johannes Brahms auf eine heimliche Nachfolgerin im Geiste traf. Zunächst spielte das Opalio Piano Quintet des Hamburgers „Quintett in f-Moll“ mit einer leidenschaftlichen wie detailverliebten Tiefenschärfe. Die emotionale Vehemenz des hanseatischen Wahlwieners kam mit überwältigender Unmittelbarkeit zum Ausdruck. Das Konzert klang mit Amy Beach aus. Das „Quintett in fis-Moll“, das die Amerikanerin im Jahr 1907 schuf, verbindet den Gestus von Brahms mit einer Priese schwelgerischer Richard Strauss-Süße und einem opernhaften Melos, das im Adagio espressivo gar an das Sentiment eines Puccini erinnert. Das Davos Festival regt dazu an, den Horizont der Musikgeschichtsschreibung beherzt neu zu justieren. Denn wir kapieren auf einmal: Ja, es gab all diese starken Frauen in einer männerdominierten Komponistenwelt. Jetzt ist es an der Zeit, sie zu spielen – und zur Diskussion zu stellen. Ein Schmankerl für Augen und Ohren gab’s zwischen Brahms und Beach, als Marianna Bednarska „Proteus“ von Jesús Torres, der Spanier ist Jahrgang 1965, zum besten gab. Die polnische Perkussionistin gleicht einer Berserkerin, die zwischen dem behutsamen Streicheln und vollmundigen Schlagen ihrer Instrumente zu einem erotischen Vulkan zu werden scheint. Da werden Körper (und hier sogar) Stimme der Schlagzeugerin mit den Instrumenten eins.
Frau Bach liebt Gubaidulina – im Kirchner-Museum
Als sonntägliche Matinee zwischen den Abendkonzerten lud das Davos Festival zudem ins Kirchner Museum, das Werke des Expressionisten am Ort ihrer Entstehung zeigt. Im Museumskonzert startete Intendant Marco Amherd seine Reihe „Frau Bach im Museum“, womit der Schweizer indes listig ein falsche Fähre legt. Denn nicht die Gattin des alten Johann Sebastian ist hier gemeint, sondern eine fiktive Dame, die neugierig auf Neue Musik ist. Und siehe da: Im Publikum sind viele solcher Damen zu finden, so auch eine, die dem Autor dieser Zeilen nach Sofia Gubaidulinas „Duo-Sonate für Altsaxophon und Violoncello“ anvertraute, dass sie nun erneut wisse, warum sie seit Jahrzehnten ihre Sommerfrische in Davos verbringe: Um so fantastische Künstler mit so aufregender, allzu gern Neuer Musik zu erleben! Da darf dann auch mal Bach dabei sein. Aber bitte nicht zu viel. Friedrich Thiele, frisch berufener Solocellist der Staatskapelle Dresden, stellte so etwas wie den idealen Bach vor: Die „Suite Nr. 5 in c-Moll“ ging der Cellist mit rhetorisch klarer Artikulation und einem dennoch voll klingenden Ton an, sodass er uns wie ein junger Weiser vorkam: Mit geschlossenen Augen ertastete er die meditativ entschleunigte Sarabande. Das war einer von diesen Traummomenten, derer es an diesem Eröffnungswochenende gar viele gab. Ja, hier hört und spielt man anders!