In Leipzig wusste man schon immer um die heilsame Wirkung des Gesangs. Aus einem Gedicht von Johann Gottfried Seume, einst hier Nikolaischüler, später Dichter und Verleger, stammen die berühmten Zeilen, die sogar in den deutschen Sprichwortschatz übergegangen sind: „Wo man singet, lass dich ruhig nieder, / Ohne Furcht, was man im Lande glaubt; / Wo man singet, wird kein Mensch beraubt; / Bösewichter haben keine Lieder.“
Leipzig war als Musik-, Messe- und Musterstadt des erblühenden kaufmännischen Kulturverständnisses auch immer eine Hochburg des Gesangs. Hier wirkt nicht nur seit 1212 der berühmte Thomanerchor, hier wurde mit der Oper auch 1693 das dritte bürgerliche Musiktheater Europas jenseits der Adelshäuser gegründet. Nur wenige Jahre später leisteten sich die Händler noch eigene Stadtpfeifer – bis heute überlebten sie als Gewandhausorchester. Und je selbstbewusster das reiche Bürgertum der höfischen Kultur trotzte und ihr den Rang ablaufen wollte, desto vielfältiger schillerte auch die Chorszene. Das ist bis heute nicht anders.
Desto logischer erscheint, dass rund um Christi Himmelfahrt „Hypezig“, die quirlige und gleichzeitig kulturträchtige Metropole des Ostens, nach zwei Jahren Stummstand umso mehr zum Kristallisationspunkt des gemeinschaftlichen Gesangs wird. Denn alle vier Jahre lädt der Deutsche Chorverband seine Mitglieder in wechselnde Städte ein, 2020 wäre Leipzig an der Reihe gewesen. Aus naheliegenden Gründen wurde das gigantomanische Festival gleich um zwei Jahre verschoben, um ganz sicherzugehen. Und doch fragt man sich noch immer, ob angesichts der aktuellen Zahlen – die Anfang April in Sachsen so hoch wie noch nie waren – die Aktion eher ein echtes Himmelfahrtskommando oder doch ein Befreiungsschlag ist.
Hin- und hergerissen zwischen Vor- und Zuversicht vibrieren Stadt und Verband geradezu in ihrer Flucht nach vorn. Das große Leipziger Trotzdem steht ganz im Geiste des Zweckoptimismus. Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wie, wenn nicht so? Die Welle ebbe ab, die Zutrittsregeln richteten sich konsequent nach den Zahlen aus, und ohnehin könne ja auch im Mai viel draußen stattfinden. „Von ursprünglich 500 angemeldeten Chören drückten immerhin knapp 350 auf den Wiederholungsknopf – trotz extrem widriger Probenbedingungen und um ein Drittel höherer Anmeldegebühren“, sagt Verbandsgeschäftsführerin Veronika Petzold. „Gerade in der Pandemie haben viele Menschen gelernt, wie wichtig ihnen das Chorsingen und die soziale Gemeinschaft sind.“
Eine Lobby für das gemeinsame Singen
Denn erst wenn etwas nicht mehr stattfinden kann, wird einem ja richtig bewusst, was fehlt. „Der Bedarf an Kultur ist nicht kleiner geworden, und wir freuen uns auf dieses wichtige Signal, dass das Singen wieder losgehen kann“, verbreitet Petzold ansteckende Zuversicht. Zugleich rief sie 2022 als „Jahr der Chöre“ aus, um dem gemeinsamen Singen eine Lobby zu bieten. Das bleibt schon jetzt nicht ohne Erfolg. Denn auch wenn Petzold gerade im Bereich der Kinder- und Jugendchöre einen erheblichen Schwund um etwa fünfzehn Prozent prognostiziert, darf sie sich freuen, dass nun der Fokus umso mehr auf der Reanimation des gemeinsamen Singens liegt – politisch wie medial. Denn wann hätte es das präpandemisch schon mal gegeben, dass im Hauptabendprogramm der ARD ein Chorfestival porträtiert wird, was abseits der schunkelschenkelseligen sogenannten Volksmusik doch anderes erwarten lässt?
Quasi im Zwanzigminutentakt wird es in Leipzig also an vier Tagen 350 kostenlose Tageskonzerte geben, dazu kommen sogenannte Nachtklang-, Wandel- und einige eintrittsbewehrte Festkonzerte mit professionellen Ensembles. Noch dazu lockt ein Laien-Wettbewerb (abseits des anderswo aufgebürsteten Höchstleistungsprinzips) zu 87 Konkurrenzkonzerten in zwei Kategorien und unterschiedlichsten Genres. Wer will, kann sogar spontan mitsingen, etwa bei Mendelssohns „Paulus“ oder Bachs „Johannes-Passion“. „Mit 27 Bühnen an 23 Hauptspielstätten haben wir hier auch sehr attraktive Orte zu bieten“, lockt Kurator Tobias Rosenthal. Und wer einmal erlebt hat, wie so viele Sangeswütige eine Stadt beleben können, zumal wenn sie so ein kompaktes Zentrum hat, wird sich immer gern daran erinnern, wie erfrischend auch die Spontaneität ungeplanter Platzkonzerte mitten auf der Straße sein kann. Denn darum geht es ja vor allem: den freundschaftlichen Austausch Gleichgesinnter, die sich gegenseitig als Publikum wie Akteur befeuern.
Und nichts ist dringender denn dieses. Singen sei das „wirksamste Mittel gegen Einsamkeit in unserer Gesellschaft“, behauptet Chorverbandspräsident Christian Wulff. Es ist gesund, hilft Ängste abbauen und macht glücklich, so kann man es in jedem Lifestylemagazin nachlesen. Stärkung der Abwehrkräfte, Stressabbau, Glückshormone – die physische Wirkung auf Körper und Seele scheint jeden anderen Sport in den Schatten zu stellen. Und dazu macht es auch noch Spaß.
Aus der Schmollecke biederer Vereinsmeierei befreit
Das alles mögen zwar keine neuen Erkenntnisse sein, aber im postmodernen Zeitalter der Lebenskrisler und Sinnsucher dürfte es vor allem die therapeutische Wirkung des Singens sein, die das Chorwesen aus der Schmollecke biederer Vereinsmeierei befreit und weit vor Corona zum neuen Trend gemacht hat. Das gemeinsame Erlebnis steht an erster Stelle, eine Art Erweckungsbewegung durch die Entdeckung der eigenen Stimme. Gerade in Großstädten, den Hochburgen der Singlehaushalte, hat das Singen in Chören wieder Hochkonjunktur, ist das einst verstaubte Volkslieder-Klischee der Spannung zwischen aufmerksamem In-sich-Hineinhören, sozialem Aufeinander-Eingehen und gesundheitsförderlichem Entäußern gewichen. Und am Ende des Tages genießt man eben auch das: den fröhlichen Abend beim Bier in einer Gemeinschaftlichkeit, die rar geworden ist in der modernen Gesellschaft. Nicht umsonst gelten Chöre auch als Heiratsmärkte.
Nach 1945 dagegen war das Singen verpönt, galt als bürgerlich, geschichtsvergessen und Gleichmacherei. Inzwischen aber, gespeist durch die Globalisierung der guten Laune von Skandinavien über das Baltikum bis nach Amerika, ist die Lust am Gruppenerlebnis und an der gemeinschaftlichen Gesundheitsförderung wieder gewachsen. Jenseits der zarten Zuckerbutterschicht professioneller Ensembles singen in Deutschland mehr als zwei Millionen Laien in mehr als 55.000 Chören. Wie viele davon Corona überlebt haben werden, kann man erst in ein paar Monaten sagen. Wie man indes das Singen vom Stigma des bösen Aerosol-Zerstäubers befreit, führt der Chorverband nun in Sachsen vor. Auch hier übt sich Geschäftsführerin Veronika Petzold im Leipziger Trotzdem: „Wir sind 160 Jahre alt und haben schon ganz andere Krisen überstanden.“
concerti-Tipp:
Deutsches Chorfest 2022 Leipzig
26.5.–29.5.2022
350 Chöre und Vokalensembles
Thomaskirche, Felsenkeller, Markt
Weitere Infos unter: www.chorfest.de