Berühmte Komponisten mit solch undankbaren Lebensdaten haben es schwer: 1900 geboren, 1950 gestorben, da kann man nur einmal Jubiläum feiern, und das tut auch die Kulturmaschinerie gern. Nur einmal? Seit 1993 ist das Kurt Weill Fest in der Geburtsstadt des Komponisten stetig gewachsen, hat sich vom regional verschämten Geheimtipp zum selbstbewussten Festival entwickelt, das sich letzthin auch das Vertrauen der enorm restriktiven Kurt Weill Foundation mit Sitz in den USA erwarb, die die Musikrechte verwaltet. Dabei hatte es Kurt Weill mit Würdigung und Anerkennung seiner Person und seines künstlerischen Schaffens schon immer schwer: Er war Wanderer zwischen den Welten, ließ sich weder auf seine berühmten frühen Brecht-Vertonungen noch auf sein Broadwayschaffen reduzieren, komponierte Lieder und Sinfonien, changierte mit durchaus unterschiedlichem Erfolg zwischen Jazz, Operette und Avantgarde. Weill, der jüdische Dessauer Kantorensohn, war zeitlebens ein Grenzgänger, nicht nur über den Atlantik hinweg, sondern vor allem musikalisch und politisch. Der von der Machtergreifung erzwungenen Flucht folgten ein Aufenthalt in Paris und schließlich ein neues Leben in New York.
Waren in den vergangenen Jahren die verschiedenen Facetten dieses reichen und doch so kurzen Komponistenlebens in Dessau thematisiert worden, geht es in der 28. Ausgabe des Kurt Weill Festes unter der Ägide seines neuen Intendanten Jan Henric Bogen, der 2021 als Operndirektor ans Theater St. Gallen wechselt (Anm. d. Red.), um die Frage, was Grenzen sind. 30 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen, 70 seit Weills Tod, 75 seit den verheerenden Bombenangriffen auf den einstigen Rüstungsstandort Dessau. Die Bauhausstadt gerät immer wieder in die Schlagzeilen, weil sich hier neofaschistische Tendenzen und demokratische Kräfte auf engstem Raum kräftige Fehden liefern. Bei der letzten Europawahl stimmte ein Fünftel der Wähler für die AfD. Dass sich das Bauhaus mit seiner Absage an einen Auftritt der Band „Feine Sahne Fischfilet“ blamierte, ließ den Eindruck entstehen, hier würden eher neue Grenzen gezogen als alte eingerissen. In diesem spannungsgeladenen Klima kommt das Festival gerade recht, weil es die Weitsicht Kurt Weills zum Ausgangspunkt seiner Programmpolitik macht. Zwischen Sinfoniekonzert, Opernaufführung, Chansonabend und Jazzsession können sich die Veranstalter aus dem großen Fundus von Weills Schaffen bedienen, und bieten internationalen wie lokalen Künstlern unterschiedlichste Bühnen vom Theater bis zum Bahninstandsetzungswerk.
Kurt Weill Fest: Grenzen überschreiten
Das ambitionierte Theater Dessau hat lange mit dem Land Sachsen-Anhalt um seine Sparten gekämpft, konnte sich aber 2019 finanziell neu aufstellen und erhält vor allem von der Stadt neuen Rückenwind. Es lädt zur Eröffnungsgala „Über Grenzen“ mit Star-Tenor Rolando Villazón, der sein Dessau-Debüt gibt. Der Multimedia-Abend „We Fight Back“ im Bauhaus vermittelt mit Filmen, Musik und originalen Tondokumenten den Kampf Weills gegen den Nationalsozialismus. Eines der außergewöhnlichsten Projekte wird in der Marienkirche der Stadt realisiert: „Unknown, I live with You“ gibt im Rahmen des „Afghan Women’s Writing Project“ denjenigen Frauen eine Stimme, die in einem patriarchalischen System zum Schweigen angehalten werden. Unter der Regie von Krystian Lada gehen Texte afghanischer Dichterinnen eine Verbindung mit dem avantgardistischen Songstil der Komponistin Katarzyna Głowicka ein. Hier zeigt das Kurt Weill Fest deutlich, dass es sich einer Kunstausübung verpflichtet fühlt, die Grenzen nicht nur hinterfragt, sondern auch überschreitet.