1886 muss es im Kapellmeistersalon des Neuen Leipziger Stadttheaters ein ungeheuerliches Missverständnis gegeben haben: Als Gustav Mahler 26-jährig hier ankam, glaubte er, auf Augenhöhe Arthur Nikischs als Erster Kapellmeister engagiert worden zu sein. Leider war dem nicht so, und der Ärger über die Position des Lückenfüllers mag den jungen Dirigenten in den knapp zwei Jahren seiner Präsenz schwer angekommen sein, für den Komponisten indes war sie das Initial.
Der Erfolg seiner Bearbeitung und Uraufführung der „Drei Pintos“ von Carl Maria von Weber ließ Mahler an seiner schöpferischen Berufung nicht mehr zweifeln, auch wenn er damals noch nicht ahnen konnte, dass die heute unbekannte Oper von seiner eigenen Berühmtheit weit überflügelt werden würde. Nur sechs Wochen brauchte er wenig später für die Niederschrift seines sinfonischen Erstlings in Leipzig und war selbst von seiner Produktivität tief erschüttert.
Mahler ist immer Chefsache
Mit seiner ersten Sinfonie eröffnete der nun zum Komponisten avancierte Dirigent ein überreiches Schaffen, das beim „Mahler Festival“ in Leipzig komplett aufgeführt wird und schon jetzt ganze Pilgergruppen aus dem In- und Ausland in die Stadt des berühmten Gewandhausorchesters zieht, das Mahler einst fast täglich selbst dirigiert hat. Dessen heutiger Chefdirigent Andris Nelsons hat sich für sein Festival weitere Weltklasseorchester aus Amsterdam, Birmingham, München, Budapest und Dresden eingeladen – mit ihren ebenso erstklassigen Maestri an der Spitze. Mahler ist immer Chefsache.
Dabei gibt es nicht nur alle zehn Sinfonien zu erleben, sondern auch besagte Opernbearbeitung, „Das Lied von der Erde“ und die Lieder aus „Des Knaben Wunderhorn“. Kammermusik, Klavierabende, Lesungen und Filme komplettieren das üppige Programm, für das es einen eigenen Festivalpass gibt, ebenso wie Stadtrundgänge auf den Spuren Mahlers in Leipzig, der schon zu Lebzeiten eine Legende war.
Wem all das noch immer nicht reicht, der kann parallel zum Konzertprogramm auch noch in die dem Gewandhaus benachbarte Moritzbastei pilgern, einen berühmten Studentenclub unter der Erde. Hier treffen sich Mitglieder der berühmten Gastorchester mit den Gewandhäuslern, feiern die Kammermusik des Meisters und kommen mit dem Publikum ins Gespräch. Verbindendes Element dieses „Wunderhorn Festivals“ sind Rezitationen aus Gedichten, die das Œuvre Mahlers inspiriert und beeinflusst haben. Eines ist also klar: Der Mai gehört Leipzig!
concerti-Tipp:
Mahler Festival Leipzig
11.5.–29.5.2023
Thomas Hampson, Yulianna Avdeeva, Daniel Harding, Andris Nelsons, MDR-Rundfunkchor, Gewandhausorchester, Concertgebouworkest u. a.
Gewandhaus, Paulinum, Thomaskirche, Nikolaikirche u. a.
Hören Sie hier ein aktuelles Interview von Arte mit dem Leiter des Konzertbüros des Gewandhauses, Tobias Niederschlag:
