Sanft streift der Seewind über die Dünen des gigantisch breiten und extra feinkörnigen Sandstrands. Dahinter laden schattige Parkanlagen zum Lustwandeln während der Siesta-Zeit. Davor wird die einst die Schiffe der Hanse einladende, gut geschützte Bucht von Pärnu zum Kinderparadies, denn so seicht und sicher nimmt die Ostsee sonst nirgends an Tiefe zu. Der Weg zum Schwimmen gleicht einer wohligen Wasserwanderung. Die gute alte Sommerfrische, als Ferienbegriff sonst etwas aus der Mode gekommen, wird hier fürwahr Ereignis. Zumal die Küste der viertgrößten Stadt Estlands nicht durch massentouristische Ferienkomplexe verschandelt ist, sondern sich ihren Charme eines Kurorts des 19. Jahrhunderts bewahrt hat.
Der Kursaal mit Konzertmuschel wurde erhalten, die Jugendstil- und Bauhaus-Villen aus der ersten Phase estnischer Unabhängigkeit zwischen den Weltkriegen aufwändig herausgeputzt, das angestaubte Kurort-Image liebevoll sensibel in die moderne Spa-Welt überführt. In manchen der schnuckeligen nordischen Holzhäuschen haben sich Buchantiquariate, Kaffeehäuser und Pizzerien angesiedelt. Der Transformationsprozess vom Sozialismus in die Gegenwart erfolgte sensibel, geschichtsbewusst und beherzt zugleich; der kluge junge Bürgermeister, der zum Studium in England weilte, steht beispielhaft dafür, dass die alten sozialistischen Eliten hier nichts mehr zu sagen haben, Investitionen nicht in dubiosen Kanälen versickern, sondern zum Wohle von Land und Leuten eingesetzt werden.
Europäischer Sprachenmix und Tiefenentspannung
Die Strategie zeigt Wirkung: Die Hotels sind voll. Besonders die finnischen Nachbarn haben die estnische Küste für sich entdeckt, doch längst zeugt ein europäischer Sprachenmix davon, dass Entspannung hier ein Prinzip ist, dem all jene Urlaubshungrigen folgen, denen der Süden zu heiß und zu laut, der Norden hingegen zu langweilig oder zu teuer ist.
Schließlich zeugt die Perle Pärnu vom kulturellen Reichtum und wiedergewonnen Bewusstsein Estlands. Ein zarter Hauch von westlicher Freiheit wehte hier freilich bereits, als Sowjetspitzel noch das Leben im Riesenreich verfinsterten. So wussten Komponistengenie Dmitri Schostakowitsch oder Geigenlegende David Oistrach die Oase namens Pärnu zu schätzen, sie kehrten Sommer für Sommer hierher zurück. Die privaten, oft spontan anberaumten Kammermusikabende Oistrachs, der Studenten und Musikerfreunde gern in seine grün angestrichene Datscha lud, gehören denn auch zur Inspirationsquelle für Paavo Järvi, den Ort, an dem er einst als Kind dem großen Schostakowitsch vorgestellt wurde, in eine Art musikalisches Sommercamp zu verwandeln. So ging 2011 das erste Pärnu Music Festival über die Bühne, im August 2020 steht nun das Jubiläum mit der zehnten Ausgabe an.
Die Rückkehr der Järvis in ihre Heimat hat auch eine dezidiert politische Dimension. Sie ist Statement. Denn die Dirigentendynastie gehört zu den berühmtesten Exilanten des kleinen Estland. Neeme Järvi emigrierte mit Frau und Kindern in 1980ern in die USA, er selbst stieg zu einem Dirigenten-Weltstar auf, seine Söhne studierten in der Neuen Welt. Heute hat das Oberhaupt der Musikerfamilie längst wieder einen Wohnsitz in der Hauptstadt Tallin, weitere Mitglieder der Järvis sind in ihre Heimat zurückgekehrt. Der Braindrain, mithin der gefährliche Abfluss von meist jungen Talenten als Kennzeichen der einstigen Sowjetländer, er scheint hier nun nicht nur gestoppt, er kehrt sich um. Denn die Lebensqualität in Estland stimmt, die Altlasten der Diktatur sind weitgehend beseitigt, russische Müllkippen wurden in blühende Naturschutzgebiete zurückverwandelt. Sogar das ein Viertel der Stadtbevölkerung fassende Plattenbau-Trabantenviertel von Pärnu wurde aufgehübscht und hat heute längst westlichen Wohnstandard erreicht.
Mitunter ist Talent erblich
Das Festival seinerseits ist Ausfluss der Familienbande. Opa Neeme sowie die Brüder Kristjan und Paavo geben gemeinsam ihr Wissen an Nachwuchsdirigenten weiter, die mit dem besonders jung und besonders exzellent mit estnischen Musikern besetzten Akademieorchester arbeiten können und die Ergebnisse der Meisterklassen dann in einem beim Publikum überaus beliebten Abschlusskonzert präsentieren. Und im eigentlichen Festivalorchester versammeln sich neben Paavo Järvis Lieblingsmusikern aus der Kammerphilharmonie Bremen, dem Frankfurter Radiosinfonieorchester, den Münchner Philharmonikern und dem NDR Elbphilharmonie Orchester oder den großen russischen Klangkörpern natürlich auch die besten Musiker Estlands, darunter so manche, die wiederum auf den Nachnamen Järvi hören. Mitunter ist Talent eben erblich.
Entdeckerfreude beim Pärnu Music Festival
Damit die im Klassikbetrieb der Großstädte gefährliche Routine hier ein absolutes Fremdwort bleibt, setzt Paavo nicht die Schlachtrösser von „Pathétique“ oder Fünfter von Tschaikowsky auf das Programm des Festivalorchesters, sondern im vergangenen Jahr etwa dessen Sinfonie Nr. 2, die kaum jemand im Orchester je gespielt hat. Gemeinsame Neugierde, Maximalmotivation, Entdeckerfreude prägen das Weltklasseensemble. Das gewählte Repertoire spiegelt zudem die Einflüsse, die hier wirksam wurden: russische und deutsche Komponisten, dazu jene Meister der Gegenwart, die der estnischen Erde entstammen und ganz große Musik schaffen: Altmeister Arvo Pärt und der mit seinen sechzig Jahren jung gebliebene, persönlich anwesende Erkki-Sven Tüür zählen zu diesen Neutönern, deren Werke von den Festivalfans mit nicht weniger kennerischem Beifall bedacht werden wie jene des Dänen Carl Nielsen oder des Böhmen Antonín Dvořák, dessen Cellokonzert der norwegische Stargast Truls Mørk so gar nicht als Star, sondern als Erster unter Gleichen mit warm abschattiertem und mit der dunklen Streicherglut des Orchesters intim abgemischtem Ton spielt.
Pärnu Music Festival
16.-23.7.2020
Mit: PaavoJärvi, Truls Mørk, Hugo Ticciati, Estonian Festival Orchestra u.a.
Pärnu, Tallinn