Thüringen bezeichnet sich selbst gern als Bachland: Immerhin ist dort nicht nur Johann Sebastian zu Hause, sondern eine weit verzweigte Familie mit vier Hauptlinien, der zahllose Organisten, Stadtmusiker und Komponisten entstammten. In Erfurt sollen „die Bache“ noch lange nach dem Verblühen des Familiennamens als Sammelbegriff für alle Stadtpfeifer benutzt worden sein, ähnlich wie man heute „Tempo“ zu allen Papiertaschentüchern sagt. Und es ist ja wahr: Als im 17. Jahrhundert in aberhundert Gegenden des Vielfürstenreichs noch kulturelle Wüste herrschte, konnte man im mitteldeutschen Raum schon lange frühe Blüten musikalischer Farbenpracht erleben – da waren die Bachs nur eine von mannigfach bedeutenden Musikerfamilien. Was bis heute in Barockkonzerten gespielt wird, stammt samt und sonders von Komponisten, die hier lebten, angestellt oder mindestens zu Gast waren.
Johann Sebastian Bachs Biografie selbst reicht von der Geburt in Eisenach 1685 über Ohrdruf, Weimar, Arnstadt und Mühlhausen bis nach Weimar, wo er bis 1717 Hoforganist war. Erst nach sechs weiteren Jahren im benachbarten Anhalt wurde er 1723 Thomaskantor im sächsischen Leipzig, wo er bis zu seinem Tode blieb. Daher bietet Thüringen mit seinen vielen historischen Wirkungsstätten die ideale Bühne als besonders legitimiertes Konzertpodium. Seit dreißig Jahren bespielen die Thüringer Bachwochen das liebliche Kloß- und Bratwurstland und kehren pünktlich zum Frühlingsbeginn nach zwei Jahren Zwangspause mit 47 Konzerten im 2G-Modus wieder in die Spielsaison zurück. Dabei benutzen sie die zwölf Städte und Gemeinden nicht nur als Kulisse, sondern bieten auch vielerorts historische Rundgänge auf den Spuren des großen Komponisten an – ein wesentlicher Vorteil für Enthusiasten, die nicht genug von Bachs Aura bekommen können.
Nun ist Johann Sebastian mit seinen zahllosen Vor- und Nachfahren bei weitem nicht die einzige Berühmtheit aus Thüringen: Martin Luthers Bibelübersetzung auf der Wartburg liegt 2022 genau 500 Jahre zurück. Die Thüringer Kleinstaaten und ihre Nachbarländer waren die ersten, die die Reformation in deutschen Landen einführten, und so war auch Bach selbst ein tiefreligiöser Mensch, der gern seine Werke „Soli Deo Gloria“ widmete. Die Bachwochen nehmen das Bibel-Jubiläum zum Anlass, auch einige geistliche Kompositionen Bachs in andere Sinnzusammenhänge zu übertragen: Die „Johannes-Passion“ wird szenisch, die „Matthäus-Passion“ choreografisch zu erleben sein. Ein Kantatenkonzert soll in Gebärdensprache aufgeführt und damit Hörgeschädigten vermittelt werden. Und wie es sich für den Komponisten angefühlt haben mag, innerhalb einer Woche ein Libretto in eine Kantate zu übersetzen, probiert der New Yorker Pianist Uri Caine als Residenzkomponist mit dem Bachchor der Eisenacher Georgenkirche aus, in der Bach getauft wurde. Eine der großen Stärken des Thüringer Festivals ist es ohnehin, klangvolle internationale Namen mit regionalen Künstlern zusammenzubringen.