Verlässt man Riga in Richtung Nordosten, wird es ganz schnell sehr ländlich. Doch auch hierher lockt nicht nur die schöne, waldreiche Landschaft, sondern ebenso ein hochkarätiges Kulturangebot. Wer bedenkt, dass das dünn besiedelte Land mit nicht einmal zwei Millionen Einwohnern in den letzten Jahrzehnten viele international bedeutende Künstler wie Elīna Garanča, Andris Nelsons und Baiba Skride hervorgebracht hat, ist davon nicht überrascht. Es lohnt sich also durchaus ein genauerer Blick auf das eigentlich kleine Cēsis, weil hier Außergewöhnliches geboten wird.
Im Mai 2014 wurde die örtliche Konzerthalle eröffnet, die seitdem das Herz der 17 000 Einwohner zählenden Stadt bildet. Das ist keineswegs selbstverständlich, hat die am Rande des Nationalparks Gauja gelegene Stadt doch auch sonst viel zu bieten. Die Ruine der ab 1209 errichteten Deutschordensburg, die ebenfalls aus dem 13. Jahrhundert stammende St.-Johannis-Basilika oder das im 18. Jahrhundert entstandene Neue Schloss sind nur die Glanzlichter.
Das Pēteris Vasks Festival
Das Zentrum für Musik mit landesweiter Strahlkraft befindet sich in der Nähe der Altstadt. Hier hat Architekt Juris Poga das hundert Jahre alte, von Augusts Lavess entworfene Gemeindezentrum in eine Konzerthalle umgestaltet. Sie beherbergt neben dem großen Saal für Sinfoniekonzerte, Opern-, Ballett- und Theateraufführungen auch einen kleinen Saal mit einer Orgel, ein Geschenk der Musikhochschule Lübeck. Da dort obendrein die regionale Musikschule untergebracht ist, herrscht hier ein reges Kommen und Gehen.
Der berühmteste lettische Komponist, Pēteris Vasks, hat in der Nähe von Cēsis sein Sommerhaus. Im Frühjahr 2018 fand in der Konzerthalle erstmals ein Festival zu seinen Ehren statt, dessen Programm er selbst zusammenstellte. Alle Schwerpunkte seines Schaffens, von Kammer- über Chormusik bis hin zu großer Sinfonik, wurden in vier Konzerten von hochkarätigen Solisten präsentiert. Hugo Ticciati spielte mit der Sinfonietta Rīga unter der Leitung von Juha Kangas Vasks’ „Distant Light“. Der Konzertabend wurde für den lettischen „Latvian Grand Music Award 2018“ nominiert, einen der wichtigsten Musikpreise des Landes.
Ein Festival für ein Streichinstrument
Im April dieses Jahres geht das Festival in die zweite Runde. Dann wird auch Hugo Ticciati wieder vor Ort sein und das selten aufgeführte zweite Violinkonzert des Esten Erkki-Sven Tüür spielen. Bei diesem und anderen Programmen des Festivals möchte Vasks sein Schaffen als Teil der zeitgenössischen nordischen Musiklandschaft präsentieren. Auch Werke des Schweden Albert Schnelzer und des Finnen Olli Mustonen werden zu Gehör gebracht.
Die Nähe zum Wald hat bei der Bevölkerung von Cēsis eine besondere Verbundenheit zum Material Holz hervorgerufen. Deshalb sind nicht nur das Parkett und die Wandvertäfelungen der Konzerthalle aus dem Holz in der Region gewachsener Bäume gefertigt, das immer noch einen frischen Geruch abgibt. Auch den Wunsch, einem Instrument aus Holz ein Festival zu widmen, hat die Leitung des Konzerthauses umgesetzt: Seit 2015 eröffnet „Cello Cēsis“ jährlich die neuen Spielzeiten. Namhafte Künstler wie Nicolas Altstaedt, Marko Ylönen, Daniel Müller-Schott und Narek Hakhnazaryan sind bereits dort aufgetreten.
Das architektonische Erbe von Cēsis
Jedes Mal wird das Instrument an einem Wochenende im Rahmen von Kammer- und Orchesterkonzerten, Filmbeiträgen, aber auch in ungewöhnlichen Verbindungen wie etwa im Duo mit Vibrafon vorgestellt. Dieses Jahr trifft das Cello in Cēsis auf ein Percussion-Ensemble. Außerdem erklingt das selten aufgeführte Doppelkonzert für Violine und Cello von Philip Glass.
Zwischen den Veranstaltungen lädt das architektonische Erbe der Kleinstadt zu einer Entdeckungstour ein. Etliche Gebäude sind zwar sanierungsbedürftig, die Zeit der sowjetischen Besatzung hat ihre Spuren hinterlassen. Aber es herrscht überall Aufbruchsstimmung, und die bedeutendsten Objekte sind bereits liebevoll hergerichtet. Wer durch das historische Cēsis wandelt, spaziert auf den Spuren deutsch-lettischer Geschichte. Die Stadt wurde 1206 von Deutschordensbrüdern gegründet und durch eine Festungsanlage gesichert, die wiederholt zum Schauplatz von Ereignissen wurde, die richtungsweisend für die Geschichte Lettlands waren. 1577 zerstörten die eigenen Truppen den Bau, weil man verhindern wollte, dass die Wendenburg in die Hände von Iwan dem Schrecklichen fällt. Kaum wieder aufgebaut, wurde sie bereits 1620 von schwedischen Truppen schwer beschädigt. 1777 nahmen Russen den Renaissance-Bau im Großen Nordischen Krieg ein, die Ruine ist aber gut erhalten.
Zeitreise ins Mittelalter
Heute kann man von dem in seinen Grundrissen noch gut erkennbaren Atrium aus mit einer Laterne den Westturm erkunden. Bei Kerzenlicht ist der Weg durch die Gänge und engen Wendeltreppen, die nahezu fensterlos errichtet wurden, wie eine Zeitreise zu erleben. Wie das Leben damals ausgesehen haben mag, zeigt auch ein mittelalterlicher Kräutergarten, der von Gärtnern in historischen Kostümen bewirtschaftet wird. Um die Ruine erstreckt sich der weitläufige Schlosspark mit einer eigenen Bühne am Teich. An dessen Rand thront auf einem Hügel die kleine, zuckergussartige orthodoxe Kirche „Christi Verklärung“ im byzantinischen Stil.
Ab 1777 wurde die Festungsanlage für den Grafen Sivers bewirtschaftet. Heute beherbergt es ein Museum für Regionalgeschichte und zeigt aufwändig rekonstruiertes Interieur. Im Turm des Anwesens befinden sich eine kreisrunde Bibliothek mit einem weißen Kachelofen und der Zugang zur Aussichtsplattform.
Neun mal abgebrannt
Auf dem Rückweg zur Konzerthalle empfiehlt sich noch ein Blick in die mittelalterliche St.-Johannis-Basilika. Sie hat eine bewegte Geschichte hinter sich, wurde bei insgesamt neun Bränden immer wieder schwer in Mitleidenschaft gezogen. Von außen wirkt das Kirchenschiff sehr alt, doch der heutige Turm wurde erst 1853 neu errichtet, und auch die Ausstattung stammt weitestgehend aus dem 19. Jahrhundert. Darunter sind Buntglasfenster und das bedeutende Altarbild, von dem ein Duplikat für den Wiener Stephansdom angefertigt wurde. Das Ölgemälde des gekreuzigten Jesus von Johann Köhler stammt aus dem Jahr 1857. An der Orgel erhielt der 1879 geborene Komponist Alfrēds Kalniņš, dessen Oper Baņuta von 1920 als erste lettische Nationaloper gilt, seine ersten Musikstunden. Schon vor mehr als hundert Jahren wurde also von Cēsis aus Musikgeschichte geschrieben.
Der wichtigste zeitgenössische lettische Komponist ist aber ein paar hundert Meter weiter anzutreffen. In der Konzerthalle Cēsis ist Pēteris Vasks auch dann häufig zu Gast, wenn Musik von Kollegen gespielt wird. Auf die Frage, was er vom hiesigen Saal hält, antwortet Vasks: „Es ist der beste, den wir in Lettland haben.“
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concerti-Tipp:
2. Pēteris Vasks Festival
13.-20.4.2019
Bundesjugendballett John Neumeier, Vestards Šimkus, Roberts Rubīns, Hugo Ticciati, O/Modernt Chamber Orchestra
Konzerthalle Cēsis
Sa. 13.4., 14:00 Uhr Kammermusik von Vasks, Pärt, Schnelzer & Mustonen. Mitglieder des O/Modernt Chamber Orchestra
Sa. 13.4., 19:00 Uhr Sasha Rivas (Choreografie), Bundesjugendballett John Neumeier, Klavierquartett aus Lettischen Musikern. Musik von Vasks u. a.
So. 14.4., 19:00 Uhr Hugo Ticciati (Violine), O/Modernt Chamber Orchestra. Vasks: Viatore & Musica apassionata, Maskats: Concerto Grosso Nr. 1, Tüür: Violinkonzert Nr. 2 „Angel’s Share“
Sa. 20.4., 19:00 Uhr Vestards Šimkus (Klavier), Roberts Rubīns (Video). Vasks: Klavierzyklus „Gadalaiki – Die Jahreszeiten“
5. Internationales Festival Čello Cēsis
13.-15.9.2019
Ashley Bathgate, Reinis Zarins, Ēriks Kiršfelds, Kristīne Balanas, Margarita Balanas, Danjulo Ishizaka, Robertas Šervenikas, Ensemble Perpetuum Ritmico, Litauisches Nationales Symphonieorchester
Konzerthalle Cēsis