So weite Kreise in unterschiedliche Kunstgebiete und Ausdrucksformen hinein hat Richard Wagners „Ring“ noch niemals gezogen! Wurde der Begriff des „Gesamtkunstwerks“ durch den Komponisten auch wesentlich mitgeprägt, so blieb die „Genossenschaft der Künste“ bei ihm doch wesentlich auf das eine große Genie bezogen, das Musik, Drama und Tanz unter einer allumfassenden Idee zu einem homogenen Ganzen verwob. Das Staatstheater Braunschweig geht mit seiner „Ausweitung des Ringgebiets“ einen anderen Weg und überraschte in dieser Spielzeit mit einem Großprojekt, das in dieser besonderen Form seinesgleichen sucht.
So hat das Mehrspartenhaus eben diese Qualität zur Grundlage eines Experiments gemacht, in dem das Musiktheater, das Staatsorchester, das Schauspiel, das Tanztheater und das JUNGE! Staatstheater ihre Kräfte bündelten und die vier Teile von Wagners Opernzyklus einer Neubefragung in den unterschiedlichen Kunstgattungen unterzogen. Im Juni 2023 bläst das Staatstheater nun zum großen Finale mit einem „Ring“-Festival, bei dem an dreizehn Tagen ein vielseitiges Rahmenprogramm zwei zyklische Aufführungen von „Das Rheingold“, „Die Walküren“, „Siegfried – Eine Bewegung“ und „Götterdämmerung“ in nochmals erweiterte Kontexte stellt.
„Die Walküren“ als Schauspiel mit neuer Musik
Zu Beginn legt Regisseurin Isabel Ostermann in ihrer Operninszenierung von „Das Rheingold“ den Fokus auf die beiden Gegenspieler Wotan und Alberich, deren unbedingter Machtanspruch sich als verbindendes Element der beiden Charaktere im erbitterten Kampf um den Besitz des Rings manifestiert. Sprechtexte aus den „Ring“-Überschreibungen von Thomas Köck bringen die Musik dabei gelegentlich zum Schweigen, womit schon eine Brücke zu den „Walküren“ geschlagen wird. Diese Halb-göttinnen rückt Regisseurin Alexandra Holtsch im zweiten Teil des „Ring“-Zyklus ins Zentrum ihrer Schauspielinszenierung, zu der sie auch die Musik komponiert hat. Autorin Caren Erdmuth Jeß dekonstruiert mit ihrem neuen Text die Wagnervorlage und erzählt von einer Zeit des Umbruchs, in der auch aktuelle Themen wie der Feminismus und die Klimakrise anklingen. Besonderes Bonbon: Wagners goldenseidener Hausschuh tritt in persona auf und präsentiert sich äußerst sangesfreudig. Wer einen kleinen Vorgeschmack auf die Themen und die Ästhetik dieser Produktion bekommen möchte, findet sich vor ausgewählten Vorstellungen auf der Probebühne ein, wo Studierende des Darstellenden Spiels ohne Berührungsängste und falsche Ehrfurcht in die Rollen der Walküren schlüpfen.
Imposantes Weltuntergangsszenario: „Götterdämmerung“ als Drei-Sparten-Stück
Den dritten Teil des „Rings“ verwandeln der Schweizer Choreograf Gregor Zöllig und der Leipziger Komponist Steffen Schleiermacher in ein Tanzstück mit musikalischen Anleihen bei Béla Bartók, Igor Strawinsky und Edgar Varèse. In „Siegfried – Eine Bewegung“ kämpft der titelgebende Held mit seinen Gesinnungsgenossen für die Ideale einer jungen Generation, die an den Grundfesten der alten Welt rüttelt – verkörpert durch Göttervater Wotan – und sich für einen nachhaltigen Umgang mit der Natur einsetzt. Im letzten Teil von Wagners Tetralogie, der „Götterdämmerung“, finden dann die einzelnen Sparten der vorangegangenen Projekte zusammen. Mit Musiktheater, Schauspiel, Tanz, Staatsorchester, Chor und Extra-Herrenchor (inklusive einer sechzigminütigen Pause mit gastronomischem Angebot) reichen sich die Regisseurinnen Beatrice Müller, Isabel Ostermann und Dagmar Schlingmann sowie Choreograf Gregor Zöllig die Hand beim wohl imposantesten Weltuntergangsszenario, das das Musiktheater je hervorgebracht hat. Eine möglichst sanfte Landung kann man da nur wünschen.
Um die ringt auch das „Ring“-Projekt „To Fall Safely“ für Jugendliche und Erwachsene. Vier junge Darsteller:innen befragen spielerisch Wagners heteronormative Rollenmodelle und binäre Geschlechtsidentitäten, während in Diana Syrses Komposition Jazz, Rock, Avantgarde und Elektronik zusammenfließen.
Vorträge, Perfomances und Interventionen im öffentlichen Raum weiten das „Ringgebiet“ aus
Begleitend zum Kernprogramm sucht die „Ausweitung des Ringgebiets“ auch den Austausch mit der Stadtgesellschaft. Mit dem „Ring-Modulator“ kreieren verschiedene Künstlerinnen und Künstler eine Intervention im öffentlichen Raum mit Installationen entlang des Okerrings und einer „Schaltzentrale“ im Louis-Spohr-Saal: Der Garten7 und das Atelier Geyso20 laden Menschen mit Beeinträchtigung ein, ihre eigene Bild- und Formensprache weiter zu entwickeln. Takashi Kunimoto sammelt mit Jugendlichen Fundstücke vom Grund der Oker, fügt sie zu einer Bauminstallation zusammen und knüpft filmisch Verbindungen zur NS-Zeit. Fabien Diffé lädt freiwillige Flaneure ein, Zeichen in der Stadt zu hinterlassen. Klangkünstlerin Neha Thakar spielt Aufnahmen von verfremdeten Liedern unterschiedlicher Nationalitäten unter zwei Brücken ab. Camara Correa spinnt mit drei Objekten an einem „Zeitseil“, und Braunschweiger Kinder können das Festspielhaus erkunden, das 20 Kinder zusammen mit dem Performance-Kollektiv Cindy+Cate entworfen haben. In einer Vortragsperformance konfrontiert Jeanne Hamilton Wagners „Ring“ mit Themen wie Tod, Sexualität, Gender, Körperwahrnehmung und Erinnerung. In einem Konzert führt Elizabeth Wurst alias loopmami Lyrics, Politics und Beatboxing zusammen, während Torben Laib und Felix Ermacora ein geschweißtes Objekt zum Ausgangspunkt ihrer konzertanten Handlungen machen. Mit Blick auf Freia als Göttin der goldenen Äpfel können sich Kinder und Eltern außerdem auf dem Theatervorplatz ihren eigenen Apfelsaft pressen.
Ergänzend zu den Aktionen des „Ring-Modulators“ gibt es eine „Live-Jukebox“, bei der (nicht nur) Sängerinnen und Sänger Schmankerl rund um Richard Wagner zum Besten geben, und eine Hörstation mit Erinnerungen des Braunschweiger Komponisten Hans Sommer, einem frühen Wagnerverehrer. Das Große Haus verwandelt sich derweil für dreizehn Tage in ein Festival-Zentrum mit Getränken, Snacks und Aktionen, während Beteiligte des „Ring“-Projekts auf dem Theatervorplatz täglich zur „Sprechstunde“ laden.
Festivalabschluss mit kammermusikalischem Sinfoniekonzert
Am 19. Juni beschließt das 10. Sinfoniekonzert des Staatsorchesters die „Ausweitung des Ringgebiets“ in Kammerbesetzung. Unter der Leitung von Mino Marani bahnen sich Antonio Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, Giacinto Scelsis „Natura renovatur“ und Richard Wagners „Siegfried Idyll“ klingende Zugänge zum Naturerleben. Zwei Tage zuvor schließt sich aber schon ein anderer Ring: Besucherinnen und Besucher des Festivals können rund um das Theater an einer Tafel Platz nehmen und sich beim Essen mit den Künstlerinnen und Künstlern austauschen. Auf so vielen Wegen ließ sich der Wagnerkosmos bisher nur selten durchreisen.