Ein Abschnitt der Chinesischen Mauer, ein gigantischer Spieltisch oder ein die gesamte Szenerie dominierendes Auge: Mächtige Skulpturen ragen jedes Jahr aus dem Bodensee empor und dienen an rund zwei Dutzend Sommerabenden als Kulisse für das Spiel auf dem See der Bregenzer Festspiele. Bei der 76. Ausgabe des Festivals erwartet die Zuschauer ein wie im Wasser treibendes Stück Papier samt filigraner Landschaftszeichnung, dazu ein kleines Schiff.
Vor diesem eher intimen Bühnenbild von Michael Levine setzt Regisseur Andreas Homoki 2022/2023 Giacomo Puccinis „Madame Butterfly“ in Szene. Die tragische Geschichte der japanischen Geisha Cio-Cio-San alias Butterfly, die hoffnungssuchend den amerikanischen Marine-Leutnant Pinkerton heiratet und bitter enttäuscht wird, feiert ihre Premiere auf der größten Seebühne der Welt und eröffnet die Festspiele am 20. Juli. Enrique Mazzola wird die Wiener Symphoniker dirigieren. Um die tragisch endende Liebe einer starken Frau geht es in der Opernproduktion im Festspielhaus. Umberto Giordanos „Sibirien“ (Leitung: Valentin Uryupin) handelt von der Kurtisane Stephana, die ihrem Geliebten Vassili in die sibirische Verbannung folgt und für Gerechtigkeit kämpft. Während des gemeinsamen Fluchtversuchs wird das Paar jedoch verraten.
Frauen sind es auch, die die Plots im Opernstudio vorantreiben, das erstmalig mit zwei Produktionen innerhalb einer Spielzeit aufwartet. Brigitte Fassbaender inszeniert, pandemiebedingt ein Jahr später als geplant, Gioachino Rossinis komische Oper „Die Italienerin in Algier“. Die Premiere geht bereits am 8. Juli über die Bühne. In Joseph Haydns „Armida“ begegnet die mit magischen Talenten ausgestattete Protagonistin männlichem Heldentum und Betrug mit Liebe und Wahrheit. Beide Werke werden von jungen Solisten gesungen. Die Leitung des Symphonieorchesters Vorarlberg übernimmt Jonathan Brandani.
Acht Musiktheaterstücke haben die Verantwortlichen in dieser Saison geplant, darunter zwei zeitgenössische experimentelle Vertreter des Genres auf der Werkstattbühne. Die deutsch-österreichische Komponistin Brigitta Muntendorf ist eigens für die Festspiele dem Topos der Melancholie nachgegangen. Das Ensemble Modern wird ihr „Melancolia“ uraufführen. Johannes Kalitzkes „Kapitän Nemos Bibliothek“ kombiniert Oper mit modernem Puppentheater und Neuer Musik und wird zum ersten Mal in Österreich zu sehen sein. An junges Publikum richten sich bereits im Mai die Familienoper „Die Zeitreisemaschine“ und im Juni das abenteuerliche Konzertstück „Vergissmeinnicht“.
Was Leonore zu Brünnhilde sagen würde
Obgleich die Orchesterkonzerte der Wiener Symphoniker im Festspielhaus ohne Bühnenbild auskommen, schwingen in ihrer Soiree unter Leitung von Enrique Mazzola die Welten der diesjährigen Musikdramen mit: Naoko Kikuchi zupft in Malika Kishinos Koto-Konzert virtuos die Saiten des traditionellen japanischen Soloinstrumentes, und in Schostakowitschs zehnter Sinfonie fühlt man sich in das Sibirien der Nachkriegszeit versetzt. Karina Canellakis lässt das Orchester in einen Dialog zwischen Wagners Brünnhilde im dritten Aufzug von „Siegfried“ und Beethovens Leonore treten. Abschließend ergründen Marie Jacquot und das Orchester tiefe menschliche Gefühle in Tschaikowskys „Romeo und Julia“-Ouvertüre, erzählen die Geschichten von Rimski-Korsakows Scheherazade und begegnen dem Wahnsinn in Schostakowitschs erstem Cellokonzert, mit dem der in Vorarlberg aufgewachsene Cellist Kian Soltani sein Festspieldebüt geben wird.
Wer einzelnen Musikern der Wiener Symphoniker „ganz persönlich“ begegnen will, hat dazu in der neuen, gleichnamigen Reihe die Gelegenheit: An drei Kammermusikabenden präsentieren sie sich in wechselnder Besetzung und ohne Frack im Seestudio. Das Symphonieorchester Vorarlberg mit seinem Chefdirigenten Leo McFall und Geigerin Alina Pogostkina bereisen in ihrer Matinee das musikalische Russland von Tschaikowsky bis Prokofjew. Zudem zeigen die jungen Musiker der neu gegründeten Orchesterakademie ihr Können nach einer einwöchigen Probenphase.
Musikalisch und theatralisch vertreten ist in diesem Jahr Shakespeares Spätwerk „Der Sturm“: Die Wiener Symphoniker spielen Tschaikowskys davon inspirierte Fantasie und das Deutsche Theater Berlin gastiert mit dem Schauspiel in der neuen deutschen Übersetzung von Jakob Nolte.