Hier entstand Weltliteratur, hier wird Weltpolitik gemacht, von hier steigt man auf mehr als 3000 Meter über dem Wasserspiegel empor und betrachtet sich die Welt von oben. Ja, und hier in Europas höchstgelegener Stadt, wo Thomas Manns „Zauberberg“-Kulisse auf der Schatzalp zum Nachsinnen über das Moribunde auch in der Musik anregt, da findet nun immer im August ein Festival statt, dass es in seiner kompromisslosen konzeptionellen Ausrichtung wirklich nur einmal gibt und das mit der Welt, in der es stattfindet, auf ganz besondere Weise interagiert. Da wurde in einem Festivaljahrgang mal jener in jedem Wagon der in der hiesigen Bergwelt verkehrenden rhätischen Bahn neben einem Klingelknopf angebrachte Hinweis „Halt auf Verlangen“ zum listig verschmitzten Motto. Gleichsam den Betriebsablauf störende Konzerte bei freiem Eintritt direkt in der Schalterhalle des Bahnhofs von Davos Platz sind seitdem stets eine kleine feine Farbe im Rahmenprogramm, das Touristen anlockt, die noch gar nichts von der Hochkultur auf Höhenmetern wussten.
Marco Amherd, der seit Herbst 2019 als Intendant des DAVOS FESTIVAL wirkt, machte im Sommer 2021 mit „Aequalis“ die Gleichberechtigung zum Thema, die geradewegs vom Wahlrecht für alle zum gleichen Recht der vier Stimmen im Streichquartett sowie einer dezidiert weiblichen Perspektive auf die sonst so männlich heroische Musikgeschichtsschreibung führte: Da gab es dann sehr viel gute Musik spannender Komponistinnen zu entdecken. Im vom 6. bis 20. August anstehenden Festivaljahrgang 2022 nun macht der schweizerische Organist und Dirigent das Flunkern zum Programm, das in der klassischen Musik eine verblüffend große Rolle spielt: Schließlich balanciert die Musik doch mindestens seit der Barockzeit auf dem schmalen Grat zwischen Wahrheit und Lüge, als das seinerzeit anerkennend gemeinte Parodieverfahren, mithin das Abschreiben von Werken aus anderer oder eigener Feder, sogar zum guten Ton gehörte und als Plagiat keineswegs geächtet war. Das Parodieren und Zitieren galt als Huldigung dessen, bei dem man sich bediente. Und doch erscheint uns das selbst vom großen Johann Sebastian Bach gern praktizierte Verfahren, all die Jubeltöne, mit denen er in weltlichen Kantaten die für ihn bedeutsamen politischen Potentaten hochleben ließ, nun hernach in geistlichen Werken in nahezu derselben Klanggestalt geradewegs auf den „Herrscher des Himmels“ zu beziehen, als erstaunlich und mitunter sogar als fragwürdig. Die Wahrhaftigkeit von Bachs Affekten steht dennoch außer Frage und berührt uns auch noch nach 300 Jahren. Wahrheit und Lüge allerdings scheinen sich gar nicht mehr diametral entgegenzustehen, sind womöglich nur dialektisch zu erfassen.
Doch mitnichten philosophisch abgehoben, sondern lustvoll die Sinne anregend schüttet das DAVOS FESTIVAL immer wieder ein fulminantes Füllhorn der Fantasie aus, reflektiert zudem auf gewitzte Weise die Eigenheiten und das Fluidum der Berge von Graubünden. Da erklingt neben dem klassisch Ernsten dann auch mal folkloristisch Uriges, bei einer Wanderung durch die Alpenidylle wird das Hören von Musik zu einem ungeahnt intensivierten Erlebnis, die Grenze zwischen Musizierenden und Hörenden wird beim offenen Singen aufgelöst.
In all seinen Kammermusik-, Orchester- und solistischen Konzerten beleuchtet das DAVOS FESTIVAL in diesen Jahr also die Lüge aus verschiedenen Blickwinkeln. Da gibt es Märchen für Erwachsene und musikalische Aufklärung für Kinder, da steht geklaute Barockmusik neben unverfälschten Klängen. Und es dürfte in so manchen Konzerten offenbart werden, welche Komponisten sich denn besonders frech mit fremden Federn schmückten.
Seit seiner Gründung im Jahr 1986 gehört es zur DNA des DAVOS FESTIVAL, eine Spielwiese der Young Artists zu sein. Rund 80 junge Musikerinnen und Musiker, die alle auf dem besten Weg an die Spitze der Klassik sind, verführen ihr neugieriges Publikum in diesem Sommer in die faszinierende Welt der falschen Annahmen, der Fiktionen und der unsicheren Urheberschaft. Da Davos exakt 1560 Meter über dem Meeresspiegel liegt, wird die Luft hier oben zwar noch nicht wirklich dünn, doch sie ist so frisch, dass die Ohren bestens gelüftet offen für ein neues Hören werden.