Imposant auf einer Anhöhe thronen über Thüringens Landeshauptstadt Mariendom und Severikirche und prägen mit ihren insgesamt sechs Turmspitzen die Silhouette der umliegenden Altstadt. Jeden Sommer nutzt das Theater Erfurt dieses einzigartige architektonische Ensemble für seine DomStufen-Festspiele: Im Juli und August werden die siebzig Stufen zur Musiktheaterbühne. Gegründet wurde das Festival in seiner heutigen Form 1994, doch reicht die Tradition, den Vorplatz des Doms zu bespielen, bis in die sechziger Jahre zurück.
In programmatischer Hinsicht bedient sich Guy Montavon, der die DomStufen-Festspiele seit 2003 leitet, des gesamten Spektrums des Musiktheaters. So erlebten die Besucher, die längst nicht mehr nur aus Deutschland, sondern auch aus den USA, Brasilien, China und Australien anreisen, einerseits bekannte Opern von Giacomo Puccini, Wolfgang Amadeus Mozart und Carl Maria von Weber, andererseits szenische Oratorien wie Georg Friedrich Händels „Messias“ und Andrew Lloyd Webbers Rockoper „Jesus Christ Superstar“. Auch Uraufführungen haben ihren Platz im sommerlichen Erfurt. Zum Teil knüpfen sie sogar direkt an die Geschichte des Ortes an wie Gisle Kverndokks Luther-Musical „Martin L.“ von 2008. Mit der Adaption von Umberto Ecos Mittelalter-Krimi „Der Name der Rose“ feierte 2019 ein weiteres Kverndokk-Stück seine Weltpremiere in Erfurt. Damals ließ Regisseur Axel Köhler einen riesigen Bücherturm vor der sakralen Kulisse errichten. Nicht immer wirkt das Dekor harmonisch. Guy Montavon, der bei den Festspielen ein halbes Dutzend Werke selbst inszeniert hat, sorgte 2018 für Aufsehen, als ein imposanter Schrottplatz mit ineinander verkeilten Autowracks und Campingtrailern den Rahmen für Georges Bizets „Carmen“ bildete.
Schlichtes Bühnenbild mit starker Symbolkraft
Mit „Nabucco“ bringt Montavon in diesem Jahr nach „I Lombardi“ (2012) und „Il trovatore“ (2017) seine dritte Verdi-Inszenierung auf die Domstufen. Vom 15. Juli bis 7. August finden zwanzig Aufführungen der alttestamentarischen Oper statt, für die Peter Sykora das Bühnenbild schlicht halten und eine goldene Mauer auf den oberen Stufen des Dombergs errichten wird. Umso stärker ist die davon ausgehende Symbolkraft, erinnert doch das Bild sowohl an den Tempel der Hebräer als auch an die Jerusalemer Klagemauer, die die babylonischen Truppen in der Oper durchbrechen. „Sie tun im Grunde das, was alle kriegerischen und terroristischen Vereinigungen tun, nämlich zu zerstören, was der Gegenseite zur Identifikation dient. Das gab es in der Antike und der Reformationszeit, während des Nationalsozialismus, und auch heute sind wir nicht frei davon“, erklärt Sykora.
Für Montavon liegt der Oper ein „Spannungsverhältnis zwischen Arroganz und Toleranz“ zugrunde. Ursprünglich war die Premiere für 2020 geplant, aufgrund der Coronapandemie musste sie jedoch verschoben werden. Dass die Thematik zwischenzeitlich so sehr an Brisanz gewinnen würde, war nicht abzusehen. „In der aktuellen Adaption muss der Krieg zwingend mitgedacht werden“, sagt Montavon. „In einem Stück, in dem es um die Vernichtung anderer Völker, anderer Menschen geht, kann man an den aktuellen Ereignissen wie Syrien und insbesondere der Ukraine nicht vorbeiinszenieren.“ Darüber hinaus haben die Veranstalter mehrere Vorträge geplant, in denen Wissenschaftler aus Musik, Dramaturgie und Theologie die Festspieloper aus unterschiedlichen Blickwinkeln genauer beleuchten.
Jenseits der abendlichen Verdi-Aufführungen gibt es für die jungen Festivalzuschauer nach drei Jahren pandemiebedingter Pause wieder eine Kinderoper auf den Domstufen: „Petterson und Findus und der Hahn im Korb“, basierend auf Sven Nordqvists Buchklassiker, wird in zehn Vorstellungen vom 24. Juli bis 6. August zu sehen sein. 2023 wollen die Veranstalter Hector Berlioz‘ „Fausts Verdammnis“ und die Uraufführung einer Bearbeitung von Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ zeigen.