Beim Blick auf die Musikgeschichte fällt der Mangel weiblicher Akteurinnen immer noch ins Auge. Zum einen, weil es Frauen in vergangenen Jahrhunderten kaum möglich war, einen künstlerischen Beruf zu ergreifen. Zum anderen, weil eine männlich dominierte Geschichtsschreibung vor allem die Vertreter des eigenen Geschlechts ins rechte Licht gerückt hat. Grund genug für das Heinrich Schütz Musikfest, in diesem Jahr unter dem Titel „ungezähmt.kreativ.weiblich“ die Sängerinnen, Instrumentalistinnen, Komponistinnen und Dichterinnen des 17. Jahrhunderts in den Mittelpunkt zu stellen, die auf Augenhöhe mit ihren männlichen Kollegen künstlerisch und schöpferisch tätig waren. Gleichzeitig sucht das Festival nach Spuren weiblicher Kunst- und Musikförderung und richtet den Blick auch auf die Gegenwart.
Schütz’ Musik und die seiner Zeitgenossinnen und -genossen erklingt dabei an Orten, an denen der frühbarocke Komponist selbst aktiv war, in fünf mitteldeutschen Städten, die entsprechend eng mit Schütz’ Biografie verbunden sind: In Bad Köstritz würde Schütz geboren, in Weißenfels verbrachte er seine Kindheit, in Zeitz wirkte er als Kapellmeister am Hof Moritz von Sachsen-Zeitz, mit dem Hause Reuß in Gera war er eng verbunden, und in Dresden war er 37 Jahre lang Kapellmeister am sächsischen Hof.
Uraufführung Alter Musik
Artist in Residence des 27. Heinrich Schütz Musikfests ist die Dresdner Sopranistin Isabel Schicketanz mit ihrem dreiköpfigen Vokalensemble Ælbgut, das mit weiteren Sängerinnen und Sängern sowie Instrumentalensembles insgesamt sechs Mal in allen fünf Städten auftritt. So erklingt gleich beim Eröffnungskonzert in der St. Marienkirche Weißenfels – außergewöhnlich für ein Festival der Alten Musik – eine Uraufführung: Für die Interpretation der Auftragskomposition „Tiefhoffnungsblau“ der Komponistin Annette Schlünz und der Dichterin Ulrike Schuster arbeitet Ælbgut mit Marie Luise Werneburg (Sopran) und Christopher Renz (Tenor) sowie mit dem Instrumentalensemble Continuumunter der Leitung von Elina Albachzusammen. Das Werk verwebt eine Auswahl aus Heinrich Schütz’ drittem und letztem Teil der „Symphoniae Sacrae“, in denen der Komponist nach dem Dreißigjährigen Krieg eine regelrechte Hymne auf den Frieden anstimmte, mit verbindenden Sätzen, die dem Sehnen der Gegenwart nach Schutz und Frieden musikalisch und sprachlich Ausdruck verleihen. In weiteren Konzerten verbündet sich Ælbgut mit dem Berliner Ensemble Wunderkammer, dem weiblich besetzten Streichtrio tiefsaits und dem Leipziger Ensemble La Rubina.
In der neuen Reihe „Carte Blanche“ bietet das Heinrich Schütz Musikfest 2024 drei herausragenden Protagonistinnen der Alten Musik eine „unbeschränkte Vollmacht“ zum Gestalten sehr persönlicher, innovativer Konzertprogramme. So webt die Gambenvirtuosin Hille Perl am 8. Oktober 2024 in der Unterkirche der Frauenkirche Dresden gemeinsam mit dem Countertenor Terry Wey, der Jazzmusikerin Cymin Samawatie und dem Gamben-Ensemble The Sirius Viols an der hypnotischen Textur von Arvo Pärts Friedensgebet „Da pacem Domine“ und verknüpft das 2004 entstandene Werk sowie John Taveners „Nipson“ (1999) mit den erschütternden „Krieges-Angst-Seufftzern“ von Johann Hildebrand, mit denen der Eilenburger Organist 1645 dem großen Leid am Ende des Dreißigjährgen Krieges Ausdruck verlieh.
Früheste europäische Instrumentalmusik, „Hits“
Mit der zweiten „Carte Blanche“ führen die Zinkenistin Friederike Otto und ein hochkarätig besetztes Ensemble am 9. Oktober 2024 in der St. Marienkirche in Gera-Untermhaus Werke komponierender Italienerinnen des 17. Jahrhunderts wie Barbara Strozzi und Francesca Caccini mit denen zeitgenössischer Komponistinnen wie Sarah Nemtsov und Alyssa Aska zusammen.
Die letzte „Carte Blanche“ zieht die vielseitige Perkussionistin Nora Thiele aus der Tasche, die am 11. Oktober 2024 im Dresdner Jazzclub Tonne auch mit Virginal und Live Electronics auftritt. Mit ihrer Band The Playfords begibt sie sich auf eine Entdeckungsreise durch die Rhythmusgeschichte Europas. Früheste europäische Instrumentalmusik, „Hits“ des 16. und 17. Jahrhunderts, moderne Ambientmusik und Improvisation treffen dabei aufeinander.
Ganz eigene Wege gehen auch Sjaella, indem sie Werke aus der Zeit Heinrich Schütz’ in den Klangkosmos eines aus sechs bis sieben Frauen bestehenden A-cappella-Ensembles überführen (6.10., Weißenfels), während die Formation ArsMusicaElettrica um die Sopranistin Julla von Landsberg Musik des 17. Jahrhunderts in die Sprache des Jazz einbettet (10.10., Bad Köstritz). Das auf die Barockmusik Mitteldeutschlands spezialisierte Ensemble Cantus Thuringia bringt indes gemeinsam mit der Cembalistin Tineke Steenbrink die 1593 in Venedig veröffentlichte Madrigal-Sammlung „Ghirlanda de Madrigali“ der italienischen Komponistin Vittoria Raffaella Aleotti zum Klingen (12.20., Frauenkirche Dresden). Werke von Aleotti, die ihre Madrigale noch vor ihrem 18. Lebensjahr im Kloster schrieb, erklingen auch, wenn die US-amerikanische Sopranistin Lisa Solomon ihr Musikfest-Debüt mit kaum bekannten Kompositionen und Dichtungen aus der Schütz-Zeit gibt (6.10., Weißenfels). Weitere namhafte Solistinnen, Solisten und Ensembles bereichern das Festivalprogramm ebenso wie die von Puppentheater begleiteten Schulkonzerte „Das tapfere Schneiderlein“ vom 23. bis 25. September und das traditionelle Konzert „Schütz_Junior!“ (2.10., Dreikönigskriche Dresden). Zum festlichen Abschluss des Musikfests im Dom St. Peter und Paul in Zeitz am 13. Oktober bilden Werke aus dem Umfeld der Mäzenin Christina von Schweden den klingenden Rahmen für die Verleihung des Internationalen Heinrich-Schütz-Preises 2024.