Ob man auf dem Bremmer Calmont, der steilsten Weinlage Europas, Zeuge wird, wie die Sonne die berühmte Moselschleife in einen Ring aus fließendem Gold verwandelt, ob man im gemütlichen Doppelstädtchen Traben-Trarbach die weit verzweigten Weinkeller aus dem 19. Jahrhundert durchstreift oder in Bernkastel-Kues, dem vielleicht schönsten Mosel-Städtchen, das beeindruckende Fachwerk-Ensemble der verwinkelten Altstadt bewundert – entlang des verschlungenen Mosellaufs, wo einem die Geschichte so lebendig vor Augen steht, wird schnell fündig, wer sich auf „Die Suche nach der verlorenen Zeit“ begibt. Zumal sich auch das diesjährige moselmusikfestival, das wieder im Rahmen des Kultursommers Rheinland-Pfalz stattfindet, dieses Motto auf die Fahne geschrieben hat. Denn nicht nur der Todestag des französischen Schriftstellers Marcel Proust, der mit seinem gleichnamigen Romanzyklus der Gesellschaft des Fin de siècle einen Spiegel vorhielt, jährt sich zum hundertsten Mal, auch möchte Festivalleiter Tobias Scharfenberger mit einem befreienden Augenzwinkern die herben Auswirkungen der letzten beiden Corona-Jahre auf die Kultur programmatisch aufarbeiten.
„2020 waren wir mit dem stärksten Vorverkauf seit sieben Jahren gestartet. Dann mussten wir das ursprüngliche Programm komplett abmoderieren, weil es nicht mehr umsetzbar war. In Windeseile haben wir 2020 einen Festivalmonat mit 25 Konzerten und sehr innovativen, pandemietauglichen Formaten konzipiert. Diese Neuerungen führen wir nun seither weiter, um junge Zielgruppen anzusprechen“, resümiert Scharfenberger die offenbar doch nicht so ganz verlorene Zeit der vergangenen beiden Jahre, auf deren Suche man sich nun vom 15. Juli bis 3. Oktober an dreißig erlesenen Spielorten entlang der Mosel begibt. Eine Suche, an der sich viele herausragende Interpretinnen und Interpreten beteiligen. An der großen Eule-Orgel in der Evangelischen Kirche zum Erlöser in Trier wird die lettische Organistin Iveta Apkalna zur musikalischen Erzählerin, während Akkordeonistin Viviane Chassot und Cembalist Jean Rondeau im Kurfürstlichen Palais mit zwei Soloprogrammen an einem Abend ihre Instrumentalkunst ganz in den Dienst Johann Sebastian Bachs stellen. Blockflötist Stefan Temmingh und Cembalistin Wiebke Weidanz spüren in der Pfarr- und Wallfahrtskirche Klausen dem Spannungsverhältnis zwischen Klang und Stille nach, und im Kloster Machern in Bernkastel-Kues bildet die römische Antike die thematische Klammer, wenn Sopranistin Jeanine De Bique und Concerto Köln Opernarien von Händel denen seiner Zeitgenossen gegenüberstellen. Dass die alten Römer passionierte Weintrinker waren, ist ebenso bekannt wie die Moselregion berühmt ist für ihren edlen Rebensaft.
Eine große Symbiose zwischen Programminhalt, Spielstätte und Künstler
„Wir haben uns in den letzten Jahrzehnten zu einer Region für Spitzenweine gemausert“, schwärmt Scharfenberger und freut sich, die Winzervereinigung „Bernkasteler Ring“ wieder als Festivalpartner mit im Boot zu haben. „Wir arbeiten außerdem mit einigen Weltklasse-Weinbaubetrieben wie Markus Molitor, Van Volxem, Maximin Grünhaus oder dem Weingut Othegraven von Günter Jauch zusammen. Auf diesen Gütern, die unglaublich malerisch in der Landschaft liegen, veranstalten wir Konzerte mit kommentierter Weinverkostung. So begegnen sich die Kunst des Weinmachens und die Kunst des Musizierens auf Augenhöhe.“
Hier wie überhaupt im gesamten Festivalprogramm zeigt sich, dass die Kirchen, Klöster, Burgen, Schlösser und Weinkeller beim moselmusikfestival nicht beliebig mit Musik „gefüllt“, sondern in ein musik-, klang- und geschichtsdramaturgisches Konzept eingebunden werden. „Im Idealfall soll eine große Symbiose zwischen Programminhalt, Spielstätte und Künstler entstehen“, erzählt Scharfenberger und verweist auf den Pianisten Kit Armstrong, der mit seinem Projekt „500 Jahre Klaviermusik“ die genannte Zeitspanne nicht nur musikalisch, sondern auch architektonisch an fünf verschiedenen Abenden und Orten durchwandert. Dazu werden die Jahrhunderte auch textlich beleuchtet.
Höhepunkte auch abseits reiner Klassikformate
Und natürlich wird am Hauptspielort Trier, in der Bibliothek des Priesterseminars, auch der hundertste Todestag Marcel Prousts gebührend gewürdigt. Schauspieler Heikko Deutschmann entführt das Publikum in die weitverzweigten, poetisch-analytischen Reflektionen des Romanzyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, begleitet von Ulf Schneider an der Violine und Jan Philip Schulze am Klavier. So hat das Festival auch abseits reiner Klassikformate einiges zu bieten. Etwa das begehbare Hörspiel in der noch nicht offiziell wiedereröffneten, stimmungsvoll illuminierten Marktkirche St. Gangolf in Trier, in der sich Besucherinnen und Besucher mit einem MP3-Player von der Gedankenwelt religiöser, philosophischer und gesellschaftskritischer Texte davontragen lassen können. Auch die Grandbrothers alias Erol Sarp und Lukas Vogel, die elektronische Clubsounds mit dem Klang des Konzertflügels verbinden, und die koreanische Pianistin Yeol Eum Son, die dem Kultursommer-Motto „Kompass Europa: Ostwind“ mit Stücken des russischen Jazz-Komponisten Nikolai Kapustin Rechnung trägt, tragen neue Impulse ins Festival.
Eine ganz besondere Spielstätte bietet das ehemalige Bahnausbesserungswerk in Trier-West. Das gigantische Gebäude aus dem frühen 20. Jahrhundert, das Jahrzehntelang dem Verfall überlassen wurde, reizte Scharfenberger mit seiner „eindrucksvollen Industriekulisse“: „Wir haben die schöne Gelegenheit, drei Abende an diesem spektakulären Ort zu gestalten, bevor das Gelände in den folgenden Jahren mit Wohn- und Geschäftsgebäuden bebaut wird.“ Max Mutzke und Marialy Pacheco werden hier zwischen kubanischem Jazz und Singer-Songwriter-Pop lustwandeln. Die Jazzrausch Bigband wird hier ihre etwas andere Sicht auf Beethoven darlegen. Und Kit Armstrong wird seine 500-jährige Klaviermusikreise beenden und behutsam die Pforten zur Gegenwart aufstoßen. Eine Geste, die das moselmusikfestival auch als Ganzes für sich in Anspruch nimmt, wenn es in diesem Jahr die Musik als Inbegriff des Vergänglichen feiert und befragt.