Wo einst die Kumpel der Schwerindustrie malochten und riesige Geräte eingelagert wurden, erblüht heute die Kunst: Seit zwanzig Jahren lädt die Ruhrtriennale zu Entdeckungen an ehemals industriell geprägten Schauplätzen ein und präsentiert in der Metropole Ruhr ein vielschichtiges Kaleidoskop aus Musiktheater, Konzert, Schauspiel, Tanz, Installation und Literatur. Zur Jubiläumsedition vom 11. August bis 18. September gestalten mehr als fünfhundert Kunstschaffende aus über dreißig Ländern 107 Veranstaltungen in Bochum, Duisburg, Essen und Gladbeck.
Grenzerfahrungen im Industriedenkmal
Am ersten Festivaltag ergründet die Musiktheaterproduktion „Ich geh unter lauter Schatten“ die Schwelle zwischen Leben und Tod: Vier Frauen, die sinnbildlich für einen Engel, die Zivilisation, die Stimme und die Menschheit stehen, wandeln nacheinander auf ihrem Pfad in die Ewigkeit und erleben unterschiedliche Arten des Verlusts. Dabei gehen die vier Sängerinnen wörtlich über Metall-Stege in der Bochumer Jahrhunderthalle. Regisseurin Elisabeth Stöppler und Bühnenbildner Hermann Feuchter verzichten auf künstliche Kulissen, allein die vorhandenen Elemente aus Stahl, Eisen und Gitter in dem neuntausend Quadratmeter großen Industriedenkmal dienen als Bühne – ein besonderes Raumerlebnis auch für die Zuschauer.
Als „intensives, extrem aufgeladenes Fantasieren über den Übergang“ beschreibt Stöppler das Werk, welches musikalisch die „Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten“ des französischen Komponisten Gérard Grisey in den Mittelpunkt stellt. Kompositionen von Claude Vivier, Iannis Xenakis und Giacinto Scelsi flankieren die Gesänge, interpretiert vom Klangforum Wien und dem Chorwerk Ruhr unter Leitung von Peter Rundel.
Immersives Musiktheater
Neun Jahre lang arbeitete die in Berlin lebende Komponistin Sarah Nemtsov an ihrem Zyklus „Haus“ für Klarinette, Harfe, Flöte, Perkussion und elektroakustisches Instrumentarium. Nemtsovs Musik schichtet sich übereinander, sucht nach Strukturen im Raum und „verhandelt komplexe Zustände von Gemeinschaft, Vereinzelung und Kontaktlosigkeit“, so die Veranstalter. Bei der Ruhrtriennale ist der Zyklus erstmals in der Inszenierung von Heinrich Horwitz und Rosa Wernecke zu erleben. Eine Guckkasten-Bühne gibt es aber auch hier nicht. Vielmehr erkundet das Publikum während der Aufführung im eigenen Tempo die einzelnen Räume der Turbinenhalle an der Jahrhunderthalle Bochum. Bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts versorgten hier riesige Dampfturbinen das angrenzende Stahlwerk mit Energie. Die Licht- und Videoinstallationen des Musiktheaters sorgen für neue Assoziationen.
Tripelkonzert zum Auftakt der Ruhrtriennale
Das internationale Kunstfestival schafft jedoch nicht nur einen Rahmen für unterschiedliche Darstellungsformen, sondern will auch die Städte der Region miteinander verbinden. Zum Auftakt spielen daher zeitgleich in Bochum, Duisburg und Essen Musikerinnen und Musiker jeweils eine Auswahl aus Heinrich Ignaz Franz Bibers „Mysteriensonaten“ sowie die die Sammlung abschließende Passacaglia.
Rund ein Dutzend Konzerte machen aus den architektonisch bedeutsamen Industriehallen Resonanzräume der Metropole. Im Salzlager des Essener UNESCO-Welterbes Zollverein etwa spürt das Klangforum Wien mit Dirigent Patrick Hahn nach, wie einzelne physikalische Phänomene Komponisten bis heute als Inspiration dienen. Das renommierte Schlagquartett Köln interpretiert Michael Rantas „Yuen Shan“ für Schlagwerk und achtspuriges Tonband, eine vom Taoismus geprägte Beschäftigung mit dem menschlichen Leben von der Geburt bis zum Tod. Das Ensemble Musikfabrik lässt den impulsiven Jazz eines George Lewis auf Postexperimentelles von Sarah Hennies treffen, die sich in „Clock Dies“ fragt, was passiert, wenn die biochemische Uhr im menschlichen Gehirn aus dem Takt gerät. Und Florian Helgath, das Chorwerk Ruhr und die Bochumer Symphoniker führen in der Gladbecker Maschinenhalle Zweckel geistliche Kompositionen von Lili Boulanger, Francis Poulenc und Igor Strawinsky auf.
Olivier Messiaens Deutung des Liebestod-Sujets „Harawi“ erklingt in der Gebläsehalle im Landschaftspark Duisburg-Nord, wo auch Yaron Deutsch Virtuoses an der E-Gitarre präsentiert. Die Übersetzung von Schmerz und Ausgrenzung in Klang dient als gedankliche Klammer für das Konzert der von Elena Schwarz geleiteten Duisburger Philharmoniker in der Bochumer Jahrhunderthalle mit Werken von Messiaen, Galina Ustwolskaja, Franz Liszt und Luigi Nono.