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500. Todestag von Josquin Desprez | Interview Peter Phillips

„Ein Star seiner Zeit, aber nicht beliebt“

Peter Phillips – Dirigent, Chorleiter und Gründer der Tallis Scholars – über Josquin Desprez, dessen Todestag sich am 27. August zum 500. Mal jährt.

vonTeresa Pieschacón Raphael,

Als „Wunder der Natur wie Michelangelo in der Architektur, Malerei und Skulptur“ pries man Josquin Desprez nach seinem Tod 1521.

Peter Phillips: Ich würde ihn eher mit Leonardo vergleichen, denn Josquin war ein experimenteller Komponist – im ganz modernen Sinne. Und auch Luthers Zitat beschreibt ihn gut.

„Josquin ist der Noten Meister, die habens müssen machen, wie er wollt; die andern Sangmeister müssens machen, wie es die Noten haben wöllen.“ Was heißt das genau?

Phillips: Die Töne müssen Josquin folgen und nicht umgekehrt. Sprich: Josquin ist es, der die Regeln aufstellt. Sein Werk hat viel mit Polyfonie zu tun und ist kontrapunktisch faszinierend konstruiert. Man kann nie vorhersagen, was jetzt kommt, es ist immer wieder anders und entspricht keinen Hörerwartungen.

Mit fünfzig riesigen Pergamenten soll der erkrankte König Ludwig XI. in Paris, in dessen Dienst Josquin stand, die Wände seiner Residenz Schloss Plessis-lès-Tours behängt haben. Auf ihnen stand der Text von Josquins Motette „Misericordias Domini in aeternam cantabo“.

Phillips: Josquin war wirklich berühmt, ein Star seiner Zeit, aber nicht beliebt. Jeder wollte ihn anstellen, dabei war er kein einfacher Mann und oft nicht bereit, sich unterzuordnen und Musik auf Bestellung zu liefern.

Gian de Artiganova schreibt 1502: „Dass Josquin besser komponiert, ist richtig, aber er komponiert, wenn er es will und nicht, wenn man es von ihm erwartet, und er verlangt 200 Dukaten als Lohn, während Isaac für 120 kommen will …“.

Phillips: Sie haben all die Zitate, die auch in meinem Kopf sind! Er spielt damit auf die Rivalität mit Heinrich Isaac an, der viel umgänglicher und auch billiger war und weniger arrogant. Aber sein Werk ist auch nicht so tiefsinnig wie das von Josquin.

Welches Selbstverständnis hatte ein Komponist im 16. Jahrhundert?

Phillips: (lacht) Tja… Eigentlich das eines Dieners der Kirche oder des Fürsten. Josquin war für seine Zeit sehr selbstbewusst. Er war vielleicht der erste Komponist, der als unabhängiger Künstler überlebte – lange vor Beethoven.

Hatte Josquin nicht auch das unverschämte Glück, dass um 1501 von Ottaviano Petrucci der Notendruck in Venedig erfunden wurde, eine kleine Revolution?

Phillips: Ja. Fast all seine Messen wurden gedruckt. Seine Reputation allerdings basierte auf seinem außerordentlichen Werk, doch was die Verbreitung anging, da hatte er natürlich Glück.

Sie selbst wurden auch so etwas wie ein Musikverleger mit der Gründung 1980 Ihres Labels Gimell Records. Was steckt hinter dem Namen?

Phillips: Eine Kompositionstechnik in der englischen Mehrstimmigkeit im 15. und 16. Jahrhundert, ursprünglich Gymel genannt.

Sie waren auch lange Zeit als Musikkritiker für „The Spectator“ tätig.

Phillips: Ich habe Konzertkritiken über Orchesterwerke und Opern geschrieben. Doch in meinem Fach, der A cappella-Renaissance Musik, wollte ich nicht über Kollegen urteilen.

2023 feiern Sie das 50-jährige Jubiläum mit den Tallis Scholars. Was war Ihre Motivation damals bei der Gründung des Ensembles und was treibt Sie heute an?

Phillips: Unsere erste Aufführung war am 3. November 1973 in der St Mary Magdalen’s Church in Oxford. Bis heute habe ich einen homogenen A cappella-Klang im Kopf, strebe den „blend“, die Verschmelzung aller Stimmen an. Im Laufe der Jahre hat sich die Besetzung immer wieder geändert und es ist nicht so einfach, Sänger für mein zehnköpfiges Ensemble zu finden. Sie sollten etwas reifer und Ende zwanzig sein, wenn sie bei uns anfangen. Mit unseren vielen Aufnahmen haben sie es heute etwas leichter, unser Klangideal zu erkennen. Keiner darf solistisch herausragen. Wenn jemand auf die Opernbühne will, kann er nicht mehr bei uns bleiben.

Im Jahr 2000 standen Sie in New York sogar mit Paul McCartney auf der Bühne.

Phillips: Der Kontakt kam über John Tavener, der viele seiner Werke beim Apple Label der Beatles produziert hatte und auch mit John Lennon and Ringo Starr befreundet war. 2000 führten wir Taveners „In the Month of Athyr“ für Sprecher und Sopran-, Alt-, Tenor- und Basschor auf, basierend auf einem Text von C. P. Cavafy. Paul McCartney übernahm die Rolle des Sprechers. Mit John haben wir an vielen Projekten gearbeitet. Wir haben aber auch russisch-orthodoxes Repertoire gesungen und veröffentlicht, darunter Musik von Rachmaninow, Strawinsky oder Pärt.

Zurück zu Josquin: Nach Jahren in Aix-en-Provence, Rom, Mailand und Ferrara an diversen Höfen stirbt er am 27. August 1521 an seinem letzten Wirkungsort in Condé-sur-l’Escaut. Die Musikwelt trauert. „Josquin ist tot“ heißt es im Klagegesang von Nicolas Gombert, doch der Tote wünscht sich laut seinem letzten Willen eine ganz andere Musik …

Phillips: … nämlich seine eigene!

In seinem Testament vermachte er der Kirche seinen Besitz mit der Auflage, dass in den allgemeinen Prozessionen vor seinem Haus am Marktplatz die Motette ‚Ave Maria Pater noster‘ zu singen sei. Was würden Sie sich denn wünschen?

Phillips: (lacht laut) Vielleicht ein Requiem von Tomás Luis de Victoria? Oder die Spem in alium von 1570 von Thomas Tallis. Aber da brauchen Sie nicht so lange warten, denn im Oktober werden wir die vierzigstimmige Motette in Barcelona aufführen.

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