Herr Nikrang, vor einigen Jahren haben Sie mit der App MuseNet von OpenAI Mahlers zehnte Sinfonie vollendet. Die KI-Komposition wurde 2019 vom Bruckner Orchester Linz aufgeführt. Inzwischen haben Sie mit „Ricercar“ selbst ein Musikkompositionssystem entwickelt. Worin besteht für Sie der Reiz und Nutzen, eine intelligente Maschine in den Entstehungsprozess von Musik einzubinden?
Ali Nikrang: Zunächst möchte ich korrigieren: Wir haben Mahlers zehnte Sinfonie nicht vollendet. Wir haben nur gezeigt, was eine damals moderne KI mit dem Thema aus Mahlers Sinfoniefragment machen kann. Zu Ihrer Frage: Es gibt verschiedene Anreize. Wenn wir ein System haben, das mit dem gesamten musikalischen Repertoire trainiert ist und dann imstande ist, Musik zu komponieren, die von der eines menschlichen Komponisten nicht mehr zu unterscheiden ist, dann können wir sagen, diese Maschine hat ein Verständnis von Musik. Der größte Reiz besteht für mich darin, herauszufinden, was die Maschine gelernt hat und was sie von Musik versteht.
Können wir so auch etwas über das menschliche Verständnis von Musik erfahren?
Nikrang: Das hoffe ich. Menschen hören seit 40.000 Jahren Musik, aber wir wissen immer noch nicht, warum die Musik so einen großen Reiz auf uns ausübt. Welche Eigenschaften müssen bestimmte Sequenzen von Tönen haben, damit sie von uns als Musik wahrgenommen werden? Die Musiktheorie kann nur einen sehr kleinen Bereich von der Funktionsweise der Musik beschreiben.
Sie sprachen von weiteren Anreizen, die die KI für Sie hat …
Nikrang: Zum Beispiel die KI-Komposition. Wenn die Maschine einmal mit einigen tausend Musikbeispielen trainiert ist, haben wir sozusagen einen imaginären Raum, in dem alles, was die KI aus den Stücken gelernt hat, repräsentiert ist. Da die KI kein eigenes Bedürfnis hat, etwas zu kreieren, sind wir Menschen es, die sich am Ende bei der Komposition in diesem Raum bewegen und zu verschiedenen Ideen kommen können. Jeder kennt heutzutage ChatGPT, das ist auch ein kreatives KI-System. Ein Großteil des digitalisierten menschlichen Wissens ist in diesem System reflektiert. Je nachdem, welche Frage wir stellen, bewegen wir uns unterschiedlich durch diesen Wissensraum.
Das heißt, die KI kann das vorhandene Material nicht selbst zusammensetzen? Aber kommt es in der Kunst nicht gerade auf das sinnhafte Zusammensetzen und die Abweichung von bereits Bekanntem an? Da sind wir bei der Frage, wie kreativ Maschinen sein können.
Nikrang: Die Kognitionswissenschaftlerin Margaret Boden unterscheidet drei Stufen der Kreativität. Die erste Stufe ist die Imitation. Die zweite ist die explorative Kreativität, bei der es darum geht, verschiedene Konzepte miteinander zu verbinden, um damit zu etwas Neuem zu kommen. Wenn das System die Konzepte „Katze“ und „Astronaut“ kennt, kann es auch eine Katze in einem Astronautenanzug darstel-len, obwohl dieses Bild im Trainingssatz nicht enthalten ist. So entsteht etwas Neues. Leider haben wir in der Musik – verglichen mit dem Bereich der Bilder oder der Sprache – nicht so viele Kategorien, die verbal beschreibbar sind. Aber eine KI könnte zum Beispiel ein Stück komponieren, das stilistisch zwischen Bach und den Beatles angesiedelt ist.
Und die dritte Stufe der Kreativität?
Nikrang: Das ist die transformative Kreativität. Hier würden wir die Eigenschaften, die das System gelernt hat, um Musik zu komponieren, bewusst manipulieren und die Gewichtungen verändern. Da nähern wir uns dann dem Bereich der Avantgarde. Da gibt es aber ein technisches Problem: Man wird nie einzelne Eigenschaften beschreiben und sagen können, dass zum Beispiel ein bestimmter Parameter der KI für das Tempo oder ein anderer für die Tonarten zuständig ist. Das liegt an der Komplexität der Systeme.
Kunst ist in unserer Vorstellung mehr als andere Bereiche, in denen KI zum Einsatz kommt, verbunden mit dem menschlichen Fühlen und Erleben und oft das Resultat komplexer Künstlerbiografien. Was macht Sie so zuversichtlich, dass Maschinen auch in diesem Bereich erfolgreich sein können?
Nikrang: Von einer echten KI-Komposition könnte man nur sprechen, wenn die Maschine selbst die Absicht hätte, ein Stück zu komponieren und diese Absicht auch ausführt. Wenn wir heute sagen, die KI hat ein Stück komponiert, bezieht sich das nur auf die Datenebene. Das heißt, der Mensch hat die Absicht, mithilfe der KI zu komponieren. Diese macht Vorschläge, wie etwa die nächsten dreißig Sekunden in einem Stück klingen könnten. Der Mensch wählt dann einen dieser Vorschläge aus und bewegt sich so durch den kreativen Raum, den ich eben angesprochen habe.
Das heißt, ein wesentlicher Teil des kreativen Prozesses bleibt dem Menschen als soziales Wesen vorbehalten. Dann müssen wir auch keine Angst haben, dass zukünftige autonome KI-Systeme mit Komponisten, Schriftstellern und Malern in Konkurrenz treten? Sie gar überflüssig machen?
Nikrang: Im Gegenteil. Historisch betrachtet haben neuen Technologien immer zu neuen Formaten in der Kunst geführt. Natürlich kommt es dabei zu Verschiebungen von Tätigkeiten, aber im Endeffekt entstehen dadurch auch neue Arbeitsfelder. Ich glaube, noch niemals in der Geschichte haben so viele Menschen Musik komponiert wie heute, weil die Technologie vieles vereinfacht und demokratisiert. Wir haben jetzt aber erstmals Systeme, die auch autonom arbeiten und damit ein Stück weit kreativ sind. Das öffnet die Türen für Pionierarbeiten, die zu völlig neuen Kunstformen führen.