Vorweg betont Andreas Sieling erst einmal, dass für kein Instrument so viel Musik komponiert wurde wie für die Orgel, man also nicht alle Stücke kennen könne. Auch gäbe es so viele gute Organisten, und er selbst höre kaum CDs. Schnell zeigt sich aber, dass der Berliner Domorganist ein feines Gehör hat. Sieling ist nicht nur studierter Organist, sondern auch promovierter Musikwissenschaftler. Zudem hat er an der Universität der Künste eine Professur für „künstlerisches Orgelspiel“.
Bach: Passacaglia in c BWV 582
Gerhard Weinberger auf der Trost-Orgel (1739)
in der Schlosskirche Altenburg 1999
cpo
Es hört sich nach einer Silbermann-Orgel an, es könnte Freiberg sein. Die Mixtur ist terzhaltig; die Orgelbauer Wagner oder Trost kämen noch in Frage. Es ist sehr schön artikuliert, da spielt jemand, der viel von historisch informierter Aufführungspraxis versteht. Das Stück ist unglaublich schwer, es ist eigentlich eine Unverschämtheit, wie oft das Thema wiederholt wird: 21 mal. Das ist kein Zufall, die 21 ist eine heilige Zahl: die Zahl der Vollendung, die Umkehrung der Heiligen Zahl 12, drei mal sieben, die Quersumme ergibt drei, das Symbol des Heiligen Geistes. Und die Krönung des Ganzen ist eine Fuge. Wer da spielt, ist kaum zu sagen. Wir Organisten versuchen ja, uns in die Orgel hineinzufühlen und ihr und dem Raum gerecht zu werden. Zudem weiß man nicht, wo die Mikrophone standen – am Spieltisch habe ich einen ganz anderen klanglichen Eindruck als ein Hörer in der Kirche oder gar zu Hause. Ich denke, das hier ist eine relativ kleine Kirche. Das Plenum ist unglaublich glänzend und schön. Eine Kirche, auf der schon Bach gespielt hat? Ist das die Trost-Orgel in Altenburg? Deren Plenum habe ich gar nicht so schön in Erinnerung. Krebs, der dort Organist war, hat sehr viele Trios, also dreistimmig angelegt Orgelsätze, komponiert, und wenn man in Altenburg spielt, weiß man auch, warum. Ich habe da mal eine Triosonate von Bach gespielt, und ich konnte mich gar nicht entscheiden, welche Register ich wählen sollte, weil gerade die Soloregister hier so phantastisch klingen. Schöne Aufnahme, auch die Fuge hier zum Schluss ist sehr schön gemacht.
Karg-Elert: Acht kurze Orgelstücke op. 154. Introitus
Martin Rost auf der Ladegast-Sauer-Orgel (1878/1913)
im Dom zu Reval/Tallinn 2006
MDG
Klingt nach deutscher Romantik, auch nach einer deutschen Orgel. Sie hat sehr viel Glanz. Gamben – das müsste ein größeres Instrument sein. Ladegast, Sauer, Walcker fallen mir da sofort ein, nein, Ladegast wohl doch nicht, ich glaube, ich habe eben die Walze gehört. Doch Ladegast und später von Sauer erweitert? Das Instrument kenne ich nicht, es klingt toll! Mein erster Eindruck war Ladegast, aber dann kamen zarte Farben wie von Sauer. Spielt da Martin Rost? Der schafft es immer, Literatur auszugraben, die kein Mensch kennt. Das Stück könnte von Karg-Elert sein. Er stand immer im Schatten Max Regers, weil der einen großen Förderer hatte, Karl Straube. Dagegen ist für Karg-Elert in diesem Maße kein Organist eingetreten. Manche seiner Werke sind etwas spröde, aber dies hier ist sehr interessant: Hier geht es um Klangfarben, um feinste Nuancierungen… Eigentlich ist es eine Zumutung, dass wir Organisten auf Reisen immer auf anderen Instrumenten spielen. Wir müssen jedes Mal ganze Bewegungsläufe ändern, die ganze Choreographie neu entwerfen, aber dafür bleibt kaum Zeit, weil man sich ja erstmal mit dem Instrument beschäftigen und die Registrierung neu festlegen muss. Andererseits ist es natürlich eine große Bereicherung, so flexibel zu bleiben, Interpretationen immer wieder zu überprüfen, zu ändern und neu einzurichten. Es ist unglaublich spannend, immer wieder andere Instrumente zu entdecken, da lernt man viel über Registrierungen und Spielarten. Zum Beispiel frage ich manchmal in Norden in Ostfriesland an, ob ich mal eine Woche auf der Schnitger-Orgel üben darf, um mich wieder intensiv mit Buxtehude und dem norddeutschen Stil zu beschäftigen, um zu erleben, welche Tempi und Artikulationen möglich sind an solch einem Instrument. Die Orgel sagt mir ziemlich genau: Stopp, schneller geht es nicht! Oder: Kürzer darfst du nicht spielen, sonst ächzt die Orgel, hier macht der Wind nicht mit. Aber ich komme immer gern an „meine“ Orgel im Berliner Dom zurück! Das ist ein tolles Instrument.
Vierne: Sinfonie Nr. 2
Jeremy Filsell auf der Cavallé-Coll-Orgel (1890)
n St. Ouen, Rouen 2004
Brillant Classics
Das ist die zweite Sinfonie von Vierne. Auf einer Cavallé-Coll-Orgel. Rouen? Da habe ich auch schon gespielt. Ein wunderbares Instrument und ein tolles Stück. Ein riesiger Raum, deshalb muss diese Pause hier so lang sein. Da steht in den Noten, glaube ich, nur eine Sechzehntelpause, aber der Akkord muss erstmal verklingen, bevor es weitergehen kann. Diese Sensibilität hat nicht jeder Organist. Und das Ritardando davor muss auch gut inszeniert werden, das ist sehr gut gelungen. Die Registrierungen sind von Vierne genau vorgegeben. Die französischen Orgeln des späteren 19. Jahrhunderts waren relativ einheitlich, es gab keine so vielfältige Orgellandschaft wie in Deutschland. In Frankreich konnten die Komponisten genaue Bedienungsanleitungen schreiben, fast jeder Kathedralorganist hatte den gleichen Registerfundus. In der deutschen Literatur hat man mehr Freiheiten, aber auch da gibt es Traditionen, die man kennen sollte.
Poulenc: Konzert G-Dur für Orgel, Streichorchester und Pauken
Marie-Claire Alain auf der Jahn-Orgel im Konzertsaal Bamberg (1992)
Bamberger Symphoniker, J.-Jacques Kantorow (Leitung) 1997
Erato
Das ist eine Saalorgel. Bamberg? Es klingt flacher als in einer Kirche. Und die Zungen klingen hier fast ein bisschen künstlich, aber kraftvoll. Das Stück ist nicht einfach zu spielen. Auch hier sind die Registrierungen ganz genau vorgeschrieben… Mit Orchester zu spielen ist schwierig im Berliner Dom, weil die Orgel ziemlich tief gestimmt ist (437 Hz). Dabei gibt es tolle Orgelkonzerte mit Orchester, die beiden von Rheinberger etwa.
Weckmann: Magnificat; Bach: An Wasserflüssen Babylon BWV 653b
Agnes Luchterhandt auf der Arp-Schnitger-Orgel (1688)
in der Ludgerikirche Norden 2005
MDG
Merkwürdiges Stück! Es klingt wie zwischen den Zeiten, auch die Orgel klingt so. Lassen Sie uns mal ein anderes Stück hören. (Bach) Das ist ja doch historisch gestimmt. Der Registerfundus sagt, es ist eine große Orgel. Hm, diese Vox humana – das ist aber nicht die Orgel in Norden, oder? Na so was! Dieses Instrument ist so schwer aufzunehmen. Schnitger hat nämlich eine völlig verrückte, aber wunderbare Lösung gefunden, um das romanische Langhaus, das Querschiff und den gotischen Chor gleichermaßen zu beschallen: Er hat die Orgel um die Ecke gebaut. Als Hörer muss ich mich entscheiden, sitze ich im Langhaus oder im Chor? Auch der Tonmeister musste sich für eine bestimmte Richtung entscheiden. Aber als Organist sitze ich mittendrin, am Spieltisch höre ich die Orgel völlig anders. Das ist ein wunderbares Instrument! Dass ich das nicht erkannt habe, unterstützt sehr meine These, dass sich Orgelmusik kaum aufnehmen lässt.
Duruflé: Suite op. 5; Bach: Konzert d-Moll BWV 596
Samuel Kummer auf der Kern-Orgel (2005)
in der Frauenkirche Dresden 2005
Carus
Herrliche Musik! Das muss eine sehr große Kirche sein. Und es ist eine moderne Orgel, das merkt man an den Mixturen. Ist noch was anderes auf der CD? (Bach) Ein schönes Instrument. Ich mag es, wenn Aufnahmen einem ein Raumgefühl vermitteln. … Das ist nett! (lacht) Was der Organist da spielt, steht gar nicht in den Noten. Da stehen nur Akkorde, den Rest kann man improvisieren. Diese Girlanden als Vermittler zwischen den Akkorden klingen sehr gut gemacht! … Das ist die Kern-Orgel der Frauenkirche? Alle, die sie gehört haben, sind entsetzt von den grellen Mixturen. Das kann ich hier überhaupt nicht nachempfinden. Allerdings finde ich es schade, dass die Silbermann-Orgel nicht rekonstruiert wurde. Da bauen sie die ganze Kirche originalgetreu wieder auf, bloß bei der Orgel machen sie halt. Dass man da plötzlich Duruflé spielen kann! Das Schwellwerk klang ja recht authentisch, und auch der Bach klingt überzeugend. Das Argument war sicherlich: Wir wollen ein Instrument, auf dem man alles spielen kann. Ich finde aber, die Stärke liegt auch in der Beschränkung, im eigenen Charakter. Dann hätte man eben nur Alte Musik spielen können, aber die eben unglaublich überzeugend. Aber es klingt wirklich nicht schlecht. Und es ist frisch musiziert. Samuel Kummer kann phantastisch improvisieren. Ich habe ihn fürs nächste Jahr eingeladen, im Dom zu spielen. Da wollten Sie mich aufs Glatteis führen mit dem Duruflé, oder?