Wenn Dirigenten mehrere Ämter innehaben, hat das oft den Ruch einer Vielehe. Geht das denn überhaupt, die Traditionen zweier oder mehrerer Orchester in einer Person zu vereinen? Und wie sorgt ein Dirigent dafür, dass sich das eine Orchester nicht weniger geliebt fühlt als das andere? Höchste Zeit, Andris Nelsons dazu zu befragen.
Herr Nelsons, Sie sind Chefdirigent von zwei weltberühmten Orchestern, über die ich gerne mit Ihnen sprechen möchte. Mit welchem sollen wir anfangen?
Andris Nelsons: Ich sitze gerade hier in Leipzig, also lassen Sie uns mit dem Gewandhausorchester beginnen. Wobei, vielleicht sollten wir lieber mit Boston starten. Schwierig …
Die problematische Frage, welches eigene Kind man lieber mag. Lassen Sie uns mit dem Gewandhausorchester beginnen. Wie würden Sie dessen Klangkultur beschreiben?
Nelsons: Sie ist die Summe dessen, was das Orchester in all den Jahrhunderten zuvor gespielt und mit wem es zusammengearbeitet hat: Bach, Mendelssohn, Schubert, Brahms, dann kamen Mahler, Wagner. Der Klang kann sehr voll und reich sein, aber auch zerbrechlich, sanft, transparent, was sicher auch von der Mendelssohn-Tradition herrührt. Ein Schumann-Forte spielen die Musiker anders als ein Brahms-Forte: Weil es auch Oper spielt, ist es äußerst flexibel. Das zahlt sich wiederum bei einer Mahler-Sinfonie aus, bei der man immer mehr als hundert Prozent geben muss – und auch dem Publikum mehr als hundert Prozent abverlangen muss! Hinterher schwitzen die Musiker und die Konzertbesucher gleichermaßen (lacht).
Es gibt manchen Unkenruf, dass ganz generell die großen Sinfonieorchester der Welt klanglich einander immer ähnlicher würden.
Nelsons: Da hat das Mahler-Festival in Leipzig in diesem Jahr das Gegenteil bewiesen. Man konnte die einzelnen Orchester nicht nur daran unterscheiden, wie sie spielen, sondern auch wie die einzelnen Instrumentengruppen klingen – da liegen teilweise Welten zwischen den jeweiligen Klangkörpern! Gerade wenn verschiedene Orchester in kurzer Zeit einen Komponisten spielen, fällt der direkte Vergleich besonders leicht.
Bleiben wir bei Mahler und kommen wir zum Boston Symphony Orchestra. Sie haben sowohl in Leipzig als auch in Boston sehr viel Mahler dirigiert.
Nelsons: Die erste Sinfonie, die ich mit dem Boston Symphony Orchestra überhaupt dirigiert habe, war Mahlers Neunte, bei einer Probe noch vor meinem offiziellen Debüt mit dem Orchester. Das war der Moment, in dem ich mich in das Orchester verliebt habe.
Das lädt zu einem direkten Vergleich ein. In diesem Sinne: Wie sieht’s mit der Klangkultur des Boston Symphony Orchestra aus?
Nelsons: Ich denke, auch da lässt sich vieles aus der Historie ableiten beziehungsweise von den Dirigenten, aber auch von den Orchestermitgliedern. Es gab eine Zeit, in der neben deutschen Dirigenten auch viele deutsche Instrumentalisten bei den Bostonern waren, die ihre eigene Musikkultur mitbrachten. Wir haben hier aber auch die starke französische Tradition, wenn Sie an Charles Münch denken (Musikdirektor von 1949 bis 1962, d. Red.) und seine so aufregenden Ravel- und Berlioz-Interpretationen. Bis heute gehört die französische Sinfonik zum Kernrepertoire des Orchesters. Es gab ja damals das Bonmot: Wenn man vollendete und authentische französische Sinfonik hören möchte, muss man zu den Bostonern gehen. Ich selbst würde nicht so weit gehen, das zu sagen, das wäre sehr unfair gegenüber den französischen Orchestern (lacht). Auch der Einfluss von Münchs Vorgänger, Sergei Koussevitzky, ist noch heute spürbar, mit den zahlreichen neuen Kompositionen, die er in Auftrag gab. Tanglewood und der ganze Education-Komplex geht ja auch auf ihn zurück. Es gibt dort also eine deutsche, französische, russische, auch slawische Klangkultur. Natürlich hört man aber auch die typisch amerikanische Brillanz heraus.
Sie selbst sind wie ein Bindeglied zwischen den beiden Orchestern: Es gibt in Leipzig eine Boston-Woche und umgekehrt in Boston eine Leipzig-Woche, außerdem vergibt man öfters gemeinsame Kompositionsaufträge, etwa an Jörg Widmann …
Nelsons: … und auch Sofia Gubaidulina. Es ist sehr interessant, dass das Publikum in beiden Städten ein großes musikalisches Verständnis hat und äußerst aufgeschlossen ist, gerade gegenüber Kompositionen aus unserer Zeit. Deshalb sind auch bei beiden Orchestern so viele Kompositionsaufträge möglich. Inzwischen herrscht da beim Publikum auch schon eine Erwartungshaltung, dass man in den Konzerten Neues oder auch Ungewöhnliches hört wie in der kommenden Spielzeit des Gewandhausorchesters. Da werden wir den 200. Geburtstag von Carl Reinecke begehen, der über dreißig Jahre lang Gewandhauskapellmeister war und eine Vielzahl an Kompositionen verfasst hat, die heute weitgehend unbekannt sind. Für die allermeisten Zuhörer wird das also völlig neue Musik sein.
Nach Carl Reinecke trat Arthur Nikisch das Amt des Gewandhauskapellmeisters an. Zuvor war er vier Jahre lang Chefdirigent in Boston. Man kann den Eindruck gewinnen, die Orchester von Boston und Leipzig wären musikalische Geschwister.
Nelsons: Ja, das ist schon interessant. Auch Musiker, die in Leipzig studiert haben, gingen später nach Boston. Die dortige Konzerthalle ist sogar dem zweiten Gewandhaus nachempfunden. Im Rahmen unserer Orchester-Allianz haben wir neben dem Musikeraustausch auch gemeinsame Aufnahmeprojekte wie den gemeinsamen Richard-Strauss-Zyklus realisiert und spielen auch immer mal wieder zusammen, wenn es sich ermöglichen lässt. Es gibt auch hinsichtlich der Städte viele Gemeinsamkeiten: Sie sind nicht allzu groß, haben angesehene Universitäten und Hochschulen, auch in sportlicher Hinsicht haben sie einiges zu bieten – Leipzig in Sachen Fußball, Boston in Sachen American Football und Basketball. Die Lebensqualität ist sowohl hier als auch dort sehr hoch.
Eine weitere Gemeinsamkeit: der Komponist Thomas Adès. Drei Jahre haben Sie mit ihm in Boston zusammengearbeitet, nun ist der Brite zwei Jahre lang Gewandhauskomponist.
Nelsons: Er ist einer der größten Komponisten unserer Zeit, in ihm stecken so viele großartige und vielfältige musikalische Ideen. Ein sehr liebenswürdiger Mensch mit tollem Humor. Jedes noch so schwierige Stück von ihm, wenn er etwa mit diffizilen Rhythmen arbeitet, entpuppt sich am Ende als großartige Musik. Wir brauchen noch so viele Kompositionen von ihm! Er ist auch ein großartiger Dirigent, und das nicht nur bei seinen eigenen Werken – da sind wir wieder bei Gustav Mahler …
… und bei Felix Mendelssohn: Dirigent und Komponist in Personalunion, Gewandhauskapellmeister. Auch mit seinen Werken haben Sie reichlich Erfahrung.
Nelsons: Mendelssohn und Leipzig gehören einfach zusammen. Das Gewandhausorchester bildet den Klang von Mendelssohn, die Helligkeit, die Melancholie, die tieftraurigen Momente unnachahmlich ab. Ich habe schon viel Mendelssohn vor meiner Zeit hier in Leipzig dirigiert, aber durch das Gewandhausorchester konnte ich noch einmal so viel über Mendelssohn und die Aufführungstradition seiner Werke lernen. Da sind wir wieder, bei der ganz eigenen Klangkultur des Gewandhausorchesters!