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Blickwinkel: André Uelner

„International ist nicht mit divers gleichzusetzen“

André Uelner ist Agent für Diversitätsentwicklung bei der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz und erklärt, was alles in den Diversitätsbegriff fällt und warum manche Bevölkerungsgruppen kaum im Kulturbereich vertreten sind.

vonIrem Çatı,

Wie divers ist die Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz?

André Uelner: (lacht) Wir haben Menschen aus neunzehn Nationen im Orchester. Damit meine ich erst einmal nur das musizierende Personal. Als ich 2019 meine Tätigkeit als Agent für Diversitätsentwicklung aufgenommen habe, wurde mir auch kommuniziert, wie international die Belegschaft sei. Als ich mir dann aber die Demografie in der Stadt oder auch in der Region angeguckt habe, habe ich relativ schnell feststellen können, dass weite Teile der Bevölkerung gar nicht im Personal repräsentiert sind. Und dass international nicht mit divers gleichzusetzen ist.

Was fällt außer Internationalität noch in den Diversitätsbegriff?

Uelner: Es gibt sechs Kerndimensionen: Alter, Geschlecht, sexuelle Orientierung, Religion, ethnische Herkunft, Behinderung, und ich würde auch noch die soziale Herkunft reinnehmen. Das sind so die Merkmale, die einzelne Menschen ausmachen können. Weil das 360°-Programm der Kulturstiftung des Bundes, in dessen Rahmen ich angestellt bin, zeitlich befristet ist und so ein Wandlungsprozess immer eine Weile dauert, haben wir uns die Frage gestellt, ob es Sinn macht, sich auf alle Dimensionen und deren Intersektionen zu beziehen oder nur auf den Punkt der ethnischen beziehungsweise kulturellen Herkunft zu fokussieren. Letzteres erschien uns am Ende am sinnvollsten.

Zwei ihrer vier Jahre beim Orchester sind schon vorbei. Hat sich schon etwas verändert?

Uelner: Es hat sich auf jeden Fall ein Bewusstsein für das Thema Diversität entwickelt. Am Anfang war es ganz wichtig, die Themen zu benennen, um die es geht, und auch die Begrifflichkeiten und Themenkomplexe zu beleuchten. Nur so kann sich ein Bewusstsein bilden, um einen möglichst gemeinsamen Nenner zu finden sowie Probleme und blinde Flecken zu eruieren. Das hat natürlich auch zu teils kontroversen Diskussionen geführt, weil ein Orchester – obwohl es von außen oft als homogen wahrgenommen wird – doch auch heterogen ist und jeder eine eigene Meinung und ein eigenes Weltbild hat.

Wurden Sie denn von allen offen empfangen oder gab es auch kritische Stimmen?

Uelner: Das war ganz unterschiedlich. Natürlich gab es bei dem einen oder anderen Vorbehalte – bis heute. Ich glaube, manche haben sich gefragt: Was will der eigentlich? Ich hatte zum Teil auch Gespräche, in denen ich klarmachen musste, dass es mir nicht darum geht, eine Orchestertradition zu hinterfragen oder abzuschaffen, sondern diese weiterzuentwickeln. Das 360°-Programm sollte nicht als Gefahr, sondern als Chance zur Weiterentwicklung gesehen werden in einer Gesellschaft, die sich auch sehr rapide weiterentwickelt.

Was sind denn genau die Aufgaben eines Agenten für Diversitätsentwicklung? Wie bringt man mehr Diversität in eine Kultureinrichtung?

Uelner: Vielleicht ist es erst einmal ganz wichtig zu sagen, dass die Institutionen, die vom 360°-Programm gefördert werden, ganz unterschiedlich sind und uns keine Vorgaben gemacht wurden, wie wir unsere Rolle zu interpretieren haben. Ich glaube, dass wir meine Rolle in der Staatsphilharmonie sehr praktisch angelegt haben, weil es uns sinnvoll vorkam, Formate zu entwickeln, in denen sich Menschen mit anderen Menschen außerhalb ihrer Blase begegnen und austauschen können. So entsteht eine Sensibilität, und bestenfalls können Vorbehalte abgebaut werden. Wir haben außerdem damit begonnen, uns intern mit einem Verhaltenskodex und einem Beschwerdemanagement auseinanderzusetzen, dieses Mal allerdings für alle sieben Kerndimensionen von Diversität. Im Herbst möchten wir eine Studie präsentieren, die wir unter deutschen Orchestern durchgeführt haben. Dafür haben wir uns die Bevölkerungsstruktur in den Städten Ludwigshafen und Mannheim angeschaut und geguckt wie sieht die Bevölkerungsstruktur in den drei Orchestern der Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, im Orchester des Nationaltheaters Mannheim und der Kurpfälzischen Kammerphilharmonie aus. Wir haben festgestellt, dass es in dem urbanen Raum mit knapp 470.000 Menschen allein 45.000 Menschen mit türkischen Wurzeln gibt und viele weitere aus primär muslimisch geprägten Ländern. Die sind aber in den drei Orchestern überhaupt nicht repräsentiert. Das hat uns zur Frage geführt, wie viele dieser Menschen es überhaupt in deutschen Orchestern gibt. Dafür haben wir uns alle 129 Orchester angeschaut, die es in der Deutschen Orchestervereinigung gibt, und herausgefunden, dass unter diesen knapp 10.000 Musikerinnen und Musikern gerade einmal 64 Menschen mit Wurzeln aus der Türkei oder dem Nahen Osten vertreten sind, und davon auch nur zwei, die in Deutschland geboren wurden. Die haben wir befragt und sind jetzt gerade in der Auswertungsphase. Uns interessiert, wo diese Menschen herkommen, wie sie dorthin gekommen sind, wo sie jetzt sind und wie es ihnen dort geht. Wir wollen auch wissen, in welchen Bezug sie ihr eigenen Tun zu der Stadtgesellschaft stellen, in der ihr Orchester verortet ist.

Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz
Deutsche Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz

Woran liegt es denn, dass nur so wenige Menschen aus dieser bestimmten Herkunftsgruppe in den Orchestern vertreten ist?

Uelner: Das Problem bei klassischen Orchestern ist, dass es für eine Musikerin oder einen Musiker eines überdurchschnittlich langen Ausbildungsprozesses sowie einer hohen Qualifikation bedarf. Ein klassisches Instrument lernt man nicht in ein bis zwei Jahren, und es ist eine teure Ausbildung. Es braucht also einen langen Atem und viel Unterstützung vonseiten der Eltern. Je höher die Ausbildung ist, desto weniger Menschen mit Migrationshintergrund finden sich. Es gibt viele Indizien, die auf eine strukturelle Benachteiligung von Menschen mit einem sichtbaren Migrationshintergrund im Bildungsbereich hinweisen. Und das ist auch ein Problem für Orchester, weil sich so der Wandel auch nur langsam vollzieht. Hinzu kommt, dass die Personalfluktuation sehr gering ist. Dabei müssten sich Orchester schon jetzt mit der Frage auseinandersetzen, welche Kinder heute zum ersten Mal ein Instrument in die Hand nehmen und sich später bei ihnen auf eine freie Stelle bewerben und wie sich die Gesellschaft in diesem Zeitraum weiterentwickeln wird. Sonst bekommen sie vielleicht irgendwann ein Repräsentanz- und Akzeptanzproblem.

Eine wichtige Rolle in diesem Wandlungsprozess spielt ja auch die Führungsebene. Wie sensibilisieren Sie die für das Thema?

Uelner: Es fängt damit an, dass wir Agentinnen und Agenten für Diversitätsentwicklung auch hierarchisch bei der jeweiligen Leitung der Institution angesiedelt sind. Bevor wir alle ins Homeoffice mussten, war es bei mir zudem so, dass ich ganz bewusst an einen Platz gesetzt wurde, an dem ich quasi in Rufweite zu unserem Intendanten war. So konnte ich mehrmals täglich Dinge zwischen Tür und Angel mit ihm besprechen, was auch ausdrücklich gewünscht war und kultiviert wird. Damit werden schon viele strukturelle Hürden genommen, und es ist eine Zugänglichkeit gegeben, dank der man auch spontan auf Dinge und Entwicklungen reagieren kann.

Diversität bezieht sich nicht nur auf das Orchester, sondern auch auf die Zuhörer. Wie wollen Sie denn neues Publikum erreichen?

Uelner: Wir haben beispielsweise das transkulturelle Musikensemble Colourage mit Musikern aus dem Orchester sowie mit regional verorteten Gästen mit Wurzeln aus der Türkei und dem Nahen Osten gegründet, das basisdemokratisch und ohne musikalische Leitung Musik komponiert und ein eigenes Programm entwickelt. Dahinter steckt ganz klar das Ziel, mit dieser anderen Herangehensweise und anderer Art der Musik ein anderes Publikum anzusprechen. Damit möchten wir den Programmfächer weiten und im Orchester das Bewusstsein schaffen, sich auf neue Zielgruppen – in diesem Fall Erwachsene mit einem anderen musikkulturellen Interesse – einzulassen und für diese Formate zu entwickeln. Nur so wird Diversität auch Teil des Selbstverständnisses. Gleichzeitig schätzen wir unser Stammpublikum und möchten deren Bedürfnisse natürlich auch nicht außer Acht lassen. Hier muss man einen Weg beschreiten, der zeigt, dass wir sie nicht aus dem Blick verloren haben, aber gleichzeitig eine Notwendigkeit sehen, uns weiterzuentwickeln.

Und wie macht man denn ein Programm diverser?

Uelner: Das fängt schon mit der Debatte an, welche Komponisten überhaupt gespielt werden. Eine Idee ist, dass wir vermehrt Komponistinnen oder nicht weiße Komponistinnen spielen, die bisher nicht entdeckt wurden, die man aber aufführen sollte, auch wenn manche anregen, den Fokus eher auf Neue Musik zu legen und Komponisten unabhängig von Geschlecht oder ethnisch-kultureller Zugehörigkeit zu fördern. Was auch eine Rolle spielt, ist die Frage der Repräsentanz. Welche Personengruppen sind im Personal repräsentiert, aus deren Blickwinkel heraus dann ein Programm entsteht. Das führt uns wieder zum Problem der geringen Personalfluktuation und dazu, darüber nachzudenken, wie wir mehr Diversität ins Personal bekommen können. Ganz konkret haben wir ein Critical Friends-Gremium gegründet mit People of Color. Aus dieser Gruppe heraus wurden mittlerweile zwei Formate entwickelt.

Bewerben sich denn weniger Menschen mit Migrationshintergrund auf Orchesterstellen?

Uelner: Das kann ich so pauschal nicht bestätigen, weil man auch da noch einmal differenzieren muss. Es bewerben sich sehr viele Menschen mit Migrationsgeschichte. Aber diese internationale Bewerberlage ist dann in sich wieder nicht divers. Es sind eben Menschen aus bestimmten Herkunftsländern oder mit Wurzeln aus bestimmten Herkunftsländern einfach nicht repräsentiert. Das ist in Bezug auf in Deutschland geborene Menschen auch ein strukturelles Problem im Bildungsbereich.

Sie sind insgesamt für vier Jahre angestellt. Wie geht es danach weiter?

Uelner: Das wissen wir noch nicht. Im Moment wird coronabedingt über eine Verlängerung von zwei Jahren nachgedacht, was sich durchaus lohnen würde. Es dauert einfach, bis so ein Änderungsprozess wirklich gelebt wird. Die Kernfrage ist ja auch, wie ein Kulturwandel innerhalb des Orchesters geschehen kann, der trotzdem noch die sehr wertvolle Orchestertradition bestehen lässt, sich aber auch an die relativen gesellschaftlichen Begebenheiten anpasst. Ich glaube, es ist auch eine Frage des Generationenwechsels. Jüngere Musiker sind auch Teil der jüngeren Generation, die bereits viel diverser aufwächst, und mit diesem Selbstverständnis kommen diese Menschen dann natürlich auch ins Orchester.

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