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Blickwinkel: Dr. Johannes Graulich

„Eine sehr große Konkurrenz für das aktive Musizieren von Kindern ist das Smartphone“

Der Carus-Verlag ist einer der weltweit größten Anbieter von Vokalmusik. Dr. Johannes Graulich, ausgebildeter Kinderarzt und selbst Vollblutchorist, leitet das Familienunternehmen seit über zwanzig Jahren. Im Interview wirft er einen Blick auf die derzeitige Situation der deutschen Chorlandschaft und auf digitale Entwicklungen im Verlagswesen.

vonAndré Sperber,

Herr Graulich, der Carus-Verlag blickt schon auf eine fünfzigjährige Geschichte zurück. Wie hat sich Ihre Arbeit im Laufe dieser Zeit verändert?

Johannes Graulich: Was eine gute Notenausgabe ausmacht – etwa höchste editorische Qualität, Lesbarkeit, buchbinderische Kriterien und Ausstattungsmerkmale – ist im Grunde immer noch das gleiche wie vor fünfzig Jahren. Was sich dagegen gravierend verändert hat, ist das Nutzerverhalten. Ein Beispiel sind hier digitale Proben. Mehrstimmiges Singen über digitale Wege ist für die meisten Chöre nach wie vor unbefriedigend. Anders ist es beim Lernen von Einzelstimmen, zum Beispiel bei digitalen Stimmproben. Da haben viele Chöre Formate gefunden, die sie auch in Zukunft, unabhängig von der Pandemie beibehalten wollen. Ein zweites Beispiel sind digitale Übehilfen. Gemeinsame Probenzeit ist gerade heute ein rares Gut. Das heißt, die Sänger müssen besser vorbereitet zu den Proben kommen. Dafür haben wir beispielsweise die App „carus music“ entwickelt, mit denen Chorsängerinnen und Chorsänger, die kein Instrument spielen und mal eben am Klavier etwas durchspielen können, sich auch komplexe Werke selbst ganz gut aneignen können.

Wie groß ist die Nachfrage nach den digitalen Formaten?

Graulich: Im Grunde ist es noch zu früh, das genauer beurteilen zu können. 2020 haben wir bei Carus begonnen, unseren gesamten Katalog neben der gedruckten Note sukzessive auch digital anzubieten. Wir erzielen noch keine zehn Prozent unserer Umsätze mit digitalen Editionen, aber es herrscht in diesem Bereich ein sehr starkes Wachstum.

Denken Sie, dass das auch in Bezug auf das heute so viel gefragte Thema Nachhaltigkeit sinnvoll ist?

Graulich: Das ist schwer zu beantworten. Die digitalen Geräte und die Daten-Server brauchen Strom und es muss sich noch zeigen, dass so eine digitale Partitur auch nach dreißig Jahren noch brauchbar ist. Davon gehen wir zwar heute aus, aber man weiß es nicht. Sinnvoll und nachhaltig ist sicherlich, dass wir keine gedruckten Partituren mehr per Luftpost nach Übersee senden müssen.

Im März 2021 haben Sie die sogenannte ChoCo-Studie (Studie zur Chormusik in Coronazeiten) mitinitiiert, die die Situation der Chöre in Deutschland zu Pandemiezeiten erfassen sollte. Was hatte Sie dazu bewogen, eine solche Studie voranzubringen?

Graulich: Wir haben viele direkte Kontakte in die Chorszene. Dadurch wurde uns schnell bewusst, wie groß die Not ist. Aber es gab fast keine wissenschaftliche Untersuchung über die Situation im Vokalmusikbereich in der Pandemie. So haben wir die Studie damals initiiert, um die Situation zu beschreiben und auch gegenüber den politischen Entscheidungsträgern deutlich zu machen, dass es einen erheblichen Handlungsbedarf gibt, wenn man die einzigartige Chorlandschaft in Deutschland erhalten will. Letztendlich wollten wir dafür sorgen, dass möglichst viele Chöre gesund aus der Pandemie hervorgehen. Aktuell läuft eine Aktualisierung der ChoCo-Studie, die zeigen soll, wie sich die Lage in den letzten zwölf Monaten entwickelt hat.

Was vermuten Sie, wird dabei herauskommen?

Graulich: Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass sich die Chorsituation in den letzten zwölf Monaten irgendwie verbessert hat. Ich weiß, dass einige Chöre sich tatsächlich auflösen mussten, allerdings gibt es auch Neugründungen, und manche Chöre nutzen die Situation, um sich zu verjüngen oder programmatisch anders aufzustellen. Insgesamt ist das Ausmaß also schwer einzuschätzen. Für mich bleibt immer die Hauptfrage, wie wir den Kinder- und Jugendchorbereich wieder stabilisieren können. Denn wenn ein Kind etwa zwei Jahre kein chorisches Angebot bekommt, dann macht es einfach etwas anderes in seiner Freizeit. Und es wird auf Dauer sicher sehr schwer sein, die Kinder wieder zurück in die Chöre zu holen.

Wäre das Problem der schwindenden Mitgliederzahlen in Kinder- und Jugendchören möglicherweise auch ohne Pandemie irgendwann aufgetreten?

Graulich: Das war für mich nicht absehbar, denn der Kinder- und Jugendchorbereich war eigentlich immer recht konstant. Aber ich kann aus meinem eigenen Umfeld berichten, dass eine sehr große Konkurrenz für das aktive Musizieren von Kindern das Smartphone ist. Aber den Erlebnisfaktor des gemeinsamen Musizierens, die Vorbereitung auf ein Konzert und dann das Erbringen von gemeinsamen künstlerischen Leistungen– diese Erfahrungen sind so weit entfernt von dem, was Social Media den Kindern und Jugendlichen ermöglicht. Viele Eltern haben Sorge, dass sie ihre Kinder nach der langen Pandemiezeit, in der man recht permissiv mit den Medien umgegangen ist, zu fast nichts mehr motiviert bekommt. Dem versuchen wir natürlich entgegenzuwirken.

Inwiefern haben Sie als Verlag die Möglichkeit, Einfluss auf die Situation der Chöre zu nehmen?

Graulich: Natürlich überlegen wir uns, was die Chöre brauchen, um erfolgreich in die Zukunft zu kommen. Ein ganz wichtiger Verlagsschwerpunkt, den wir während der Pandemie massiv ausgebaut haben, das sind große Werke in kleinerer Besetzung. Wie kann man das Brahms-Requiem mit einem Kammerchor und kleinem Budget aufführen? Wir haben auch die Initiative „NeustartChor“ ins Leben gerufen, in der wir Anregungen geben, wie Chören nach der Pandemie der Wiedereinstieg in die Chorarbeit gelingen kann.

Mit welchen Gefühlen blicken Sie in die Zukunft der deutschen Chorlandschaft und Ihres Verlags?

Graulich: Vorsichtig optimistisch würde ich sagen. Es herrscht Kater- und gleichzeitig Aufbruchsstimmung. Durch die Pandemie haben viele Menschen realisiert, wie essenziell das Singen und das gemeinsame Musizieren für sie sind. Auch bei uns im Verlag sind wir während der Krise noch enger zusammengerückt und wissen, dass wir wirklich sinnvolle Arbeit leisten. Gerade in der heutigen Zeit, in der wir mit so massiven Problemen wie Klimawandel, Pandemie, Krieg zu kämpfen haben, bin ich überzeugt, dass das gemeinsame Singen unsere Resilienz fördern kann.

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