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Blickwinkel: Gunter Kreutz

„Wo keine Musik ist, herrscht Krieg“

Musikwissenschaftler Gunter Kreutz weiß, warum gemeinsames Singen so wichtig für die Seele ist.

vonChristian Schmidt,

Singen sei das „wirksamste Mittel gegen Einsamkeit in unserer Gesellschaft“, behauptet Chorverbandspräsident Christian Wulff. Aber stimmt das wirklich? Wie kann man die positiven Effekte des gemeinsamen Singens auf Psyche und Physis des Menschen messen? Gunter Kreutz beschäftigt sich seit vielen Jahren mit diesen Wirkungen und lehrt als Musikwissenschaftler seit dreizehn Jahren an der Oldenburger Universität.

In den letzten zwei Jahren hat die Pandemie dafür gesorgt, dass das Singen eher als gesundheitsschädlich gebrandmarkt wurde. Wie weit sind wir zurückgefallen?

Gunter Kreutz: Massiv, weil jede Stigmatisierungswelle die Chöre an den Rand der Existenz bringt. Die erste haben wir nach 1945 erlebt, als das aktive Singen in den Schulen verpönt war, um die propagandistische Volkstümelei auszumerzen. Bis heute spüren wir seitdem einen systematischen Fachlehrermangel. Höchstens sechs bis acht Prozent der Bevölkerung singen regelmäßig selbst. Das liegt auch daran, dass vielen Menschen in der Kindheit das Trauma eingeredet wurde, sie wären unmusikalisch. Schicken Sie die in die Karaoke-Kneipe, und plötzlich haben sie wieder Lust auf das Rudelsingen.

Die Pandemie hat das Singen als gefährlich identifiziert.

Kreutz: Tatsächlich ist ja die Aerosolverbreitung ähnlich erhöht wie etwa bei Flöten. Aber mit den richtigen Schutzmaßnahmen vom richtigen Abstand bis zu Luftfiltern kann man das Risiko minimieren. Übrigens profitieren gerade Long-Covid-Patienten von Gesangsübungen, weil diese das respiratorische System schulen, wobei die Atmung wieder als Ressource erlebt wird und nicht mehr als Belastung. Ich fürchte aber, es bleibt hängen: Ihr dürft wieder alles Mögliche machen, bloß nicht singen. Dabei sind Chöre eine Stütze der Gesellschaft: Sie halten das kulturelle Leben aufrecht und damit die Menschen zusammen – gerade auf dem Land.

Nun sind einige Chöre in den Onlinemodus übergegangen. Wie empfinden Sie solche Lösungen?

Kreutz: Damit kann man zwar das Defizit ausgleichen, sich plötzlich gar nicht mehr musikalisch zu betätigen. Aber zum Chorsingen gehört das Gemeinschaftsgefühl, das kann man nicht digitalisieren. Nicht umsonst ist es uns Menschen seit der Steinzeit als Kommunikationstechnik gegeben.

Was genau weiß die Wissenschaft, warum analoges Chorsingen so gesund ist?

Kreutz: Eine druckfrische Studie zeigt zum Beispiel, dass das Singen in der Gruppe im Altenheim für weniger depressive Symptome bei Demenzpatienten sorgt. Es verschafft also eine bessere Lebensqualität. In Kindergärten profitieren Kinder mit Sprachstörungen ebenfalls. Der Stimmapparat hält physiologisch den schulischen Anforderungen besser stand, wenn sie gemeinsam gesungen haben. Ganz allgemein euphorisiert Singen und löst positive Gefühle aus. Nicht zuletzt helfen gemeinsame Aktivitäten wie Musizieren oder Tanzen besonders Jugendlichen mit Selbstbilddefiziten – ein durch die pandemischen Kontaktbeschränkungen und den dadurch erhöhten Medienkonsum enorm angewachsenes Problem.

Welchen Einfluss hat die gemeinsame Resonanz auf den Körper?

Kreutz: Die Musik wirkt nicht nur akustisch, sondern multisensorisch. Es gibt etwa gehörlose Menschen, die Tanz unterrichten. Auch wahrnehmungseingeschränkte Menschen können durch Musik im Wortsinn mitschwingen. Sogar Rapper machen mit gehörlosen Kindern zusammen Musik, was wiederum die Sprachentwicklung trainiert. Leider wird das nicht mal in den Förderschulen erkannt, weil dort eher die richtige Aussprache im Vordergrund steht, die dann von teuren Logopäden trainiert wird. Dabei sind musikalische Texturen zeitlich-rhythmisch genau der richtige Impulsgeber für eine gesunde Sprachentwicklung. Eine finnische Studie hat gerade erst elektrophysiologisch herausgefunden, dass für die Lesefähigkeit nicht das Gehör entscheidend ist, sondern die musikalischen Fähigkeiten.

Wie sind all diese Effekte messbar?

Kreutz: Wir befragen und beobachten wie jede Sozialwissenschaft evidenzbasiert. Darüber hinaus gibt es vielfältige Messmethoden. So kann man etwa Cortisol und Oxytocin, also die negativen wie positiven Hormonwerte im Speichel vor und nach dem Singen vergleichen und nachweisen, dass Stress ab- und Wohlbefinden aufgebaut wird. Im Blut wird der Anteil körpereigener Opiate bestimmt, ein EEG misst spezifische Impulse im Gehirn. Nicht zuletzt kann man auch die Veränderung der Musikalität testen. Entscheidend ist immer der Vorher-Nachher-Vergleich, also die Frage, wie die Musik gewirkt hat.

Stimmt es, dass Singen auch den sogenannten Angstschalter umlegen kann?

Kreutz: Dahinter steckt, dass es eine zwischenmenschliche Verbindlichkeit schafft und damit Vertrauen. Das Wort „Angst“ kommt etymologisch von „Enge“, so dass gemeinschaftliches Musizieren weniger Raum für Stress und Bedrohung lässt. Wo keine Musik ist, herrscht Krieg. Sie ist ein menschliches Grundbedürfnis.

Beeinflusst Singen also über den Umweg der Psyche auch die Physis?

Kreutz: Beides hängt miteinander zusammen. Übrigens sorgt das Singen auch für die Ausschüttung von körpereigenen Opiaten. Klingt spektakulär, ist aber nicht das Entscheidende. Der Gesamtnutzen des Singens hat viele Facetten und sorgt insgesamt für mehr Wohlbefinden. Das funktioniert sogar bei Patienten mit Hörgerät: Singen sie zusammen, schulen sie ihre neuronalen Fähigkeiten so gut, dass sie ein Dezibel mehr hören!

Warum spielt das Singen immer noch eine so untergeordnete Rolle in den Schulen, wenn doch die positiven gesundheitlichen Effekte erwiesen sind?

Kreutz: Das pädagogische Fachpersonal ist in den allermeisten Bundesländern für eine musikalische Erziehung nicht ausgebildet. Praktisch alle Kinder singen gern, aber die Erzieher rufen dieses Potenzial nicht ab, weil sie es selbst nicht gelernt haben. Damit perpetuieren wir das ohnehin vorhandene Defizit, dass es für junge Menschen kein einheitliches Recht auf kulturelle Teilhabe gibt, von Generation zu Generation.

Wie meinen Sie das?

Kreutz: Bildung ist heute stark nutzenorientiert. Die meisten Eltern, die selbst nie in den Genuss musikalischer Erziehung gekommen sind, können sie auch kaum schätzen. Sie fordern daher eher die Heranführung an die vermeintlich wichtigeren Dinge im Leben. So zementieren wir eine gesellschaftliche Spaltung. Denn die Eltern aus der Mittelschicht, die um den Wert der musikalischen Bildung wissen, verlegen diese ins Private. Dabei profitieren Kinder aus sozial benachteiligten Familien überproportional von Musikunterricht: Sie sind besser integriert und schreiben bessere Schulnoten, weil sie sich besser konzentrieren können.

Warum kommt das in der staatlichen Pädagogik nicht an?

Kreutz: Dafür fehlen flächendeckend die Multiplikatoren. Dazu kommt der Fachkräftemangel, und eine Qualitätssicherung der musikalischen Erziehung findet nicht statt. Kulturtechniken wie Kunst oder Sport stehen am Ende der Futterkette, also fallen diese Fächer als erste aus, weil schon die pädagogische Grundversorgung defizitär ist. Wenn die Grundschullehrer die Kinder kennenlernen, holen sie sie kulturell oft bei null ab. Meine Vision ist, dass jedes Kind schon mit 25 Liedern aus möglichst vielen Nationen in die Schule kommt.

Aber all das ist doch kein elitäres Wissen, das können Sie in jedem Lifestyle-Magazin nachlesen. Warum schlägt es sich nicht in der Erziehung nieder?

Kreutz: Darüber zerbreche ich mir auch den Kopf. Aber auch da gilt: Wer selbst keine Erfahrung mit dem Wert kultureller Bildung hat, wird ihn nie in Erwägung ziehen oder immer wieder hinterfragen. Es hat wohl auch damit zu tun, dass kultur- und sozialpolitisches Denken weit voneinander entfernt sind. Wir finanzieren mit der sogenannten Hochkultur eine Elite, das ist in Ordnung. Aber an der Basis halten wir es nicht für nötig.

Aber es ist doch nicht so, dass nirgendwo kulturelle Bildung gelehrt würde.

Kreutz: Richtig, der Deutsche Chorverband schult zum Beispiel mit seinen jungen „Carusos“ Erzieher nach, und auch an anderer Stelle machen freie Träger, was sie können. Aber da haben wir es mit einem Flickenteppich von Einzelaktionen zu tun. Diese sogar punktuell öffentlich geförderte Projektitis kann aber leider den strukturellen Mangel einer systematischen Kulturerziehung nicht kompensieren.

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