Was bedeutet Nachhaltigkeit für die Dresdner Musikfestspiele?
Jan Vogler: Das ist zunächst ein Mindset. Die Verantwortung für die Umwelt und die Frage, was jeder von sich aus zur Nachhaltigkeit beitragen kann, bewegt seit Langem das Team der Festspiele. Das fängt mit kleinen Dingen an: Auch wenn es mal stressig ist, nehme ich in Dresden kein Taxi zur Arbeit, sondern komme zu Fuß ins Festspielbüro.
Nicole Czerwinka: Ich bin seit 2016 im Festspielteam und das Bewusstsein hier ist auffällig. Wir kontrollieren uns gegenseitig. Eine Anekdote: Wir haben uns reihum wiederverwendbare Coffee to go-Becher geschenkt, damit der ganze Papiermüll gar nicht erst entsteht. Vor Jahren haben wir uns schon gefragt, ob so viele Broschüren gedruckt werden müssen, die am Ende zum Teil im Altpapier-Container landen.
Vogler: Nachhaltigkeit beginnt mit der Einstellung.
Im Januar 2022 haben Sie zusammen mit der Dresdner Philharmonie, der Staatsoperette Dresden und anderen lokalen Kultureinrichtungen die „Dresdner Charta für Nachhaltigkeit im Kultursektor“ unterschrieben.
Czerwinka: Das geht auf eine Initiative der Dresdner Kulturbürgermeisterin zurück, die uns 2021 eine intensive Weiterbildung unter dem Motto „Culture4Future“ ermöglicht hat. Mit Hilfe einer Agentur haben wir in Workshops ganz individuelle und realistische Maßnahmen entwickelt. Denn das angesprochene Bewusstsein ging zunächst mit Ratlosigkeit einher. Wir haben als Festival den Auftrag, internationale Künstler nach Dresden zu holen, können also niemals ganz auf das Reisen verzichten. Unsere 25 Spielstätten sind angemietet, das heißt, wir können von uns aus nicht am Licht sparen, Ökostrom nutzen oder eine Solaranlage auf dem Dach montieren. Im Vergleich zur Dresdner Philharmonie oder der Semperoper schien uns unser Spielraum also relativ eng. Die Workshops haben unseren Blick geweitet.
Vogler: Das Thema Transport ist für uns ganz wichtig. Wie kommen die Menschen zum Konzert? Wie kommen die Musiker von A nach B? Wie werden Tourneen geplant und woher kommen die großen Ensembles? Es ist ein Balanceakt zwischen Kulturaustausch und Umweltschutz. Beide sind gleichwertig. Wir wollen den Kulturaustausch nicht ersticken, sondern ihn nachhaltiger gestalten. Wir stehen am Anfang des Prozesses und drehen jetzt an den kleinen Stellschrauben, die sich schnell verändern lassen.
Welche sind das konkret?
Czerwinka: Die Konzerte beginnen dreißig Minuten früher, so dass die Besucher ohne Hektik noch die letzte Bahn oder den letzten Bus ins Umland bekommen. In unserer Broschüre geben wir für jede Spielstätte an, wie lange man dorthin zu Fuß oder mit dem Fahrrad von der Frauenkirche aus benötigt. Damit wollen wir das Publikum auch ermutigen, Musik-, Natur- und Architekturgenuss miteinander zu verbinden. Bei einigen Spielstätten wie dem Palais im Großen Garten muss man das letzte Stück ohnehin zu Fuß gehen. Vielleicht bieten wir in Zukunft geführte Spaziergänge an. Wir haben digitale Programmhefte eingeführt und verteilen nur noch Flyer mit einem QR-Code und den wichtigsten Daten zu den Künstlern, den Rest muss man sich herunterladen. Wir waren zunächst skeptisch, ob wir das ältere Publikum damit nicht vor den Kopf stoßen. Doch im Gegenteil! Das wird gut angenommen, auch die Broschüre wird mittlerweile überwiegend digital angefordert. Ich denke, da hat uns die Pandemie in die Karten gespielt. Auch im Marketing bemühen wir uns verstärkt um Online-Werbung.
Welche Maßnahmen setzen Sie hinter den Kulissen um?
Czerwinka: In den Künstlergarderoben gibt es nur noch Glas- statt Plastikflaschen. Wir sind stolz, dass der gesamte Künstlertransfer seit letztem Jahr mit E-Autos unseres Sponsors stattfindet. Wir haben bereits vor der Charta mit regionalen Caterern zusammengearbeitet. Das Bewusstsein ist nun aber größer, auch noch mehr vegetarische Menüs anzubieten.
Bei den Dresdner Musikfestspielen treten international renommierte Künstler mit teils weiten Anreisen auf. Wie können Sie hier nachhaltiger werden?
Czerwinka: Das Thema bewegt die gesamte Branche. Wir sehen einen sich langsam verselbstständigenden Prozess in den Künstleragenturen hinsichtlich der Tourneeplanung. Für uns ist es wichtig, dass ein Künstler nicht extra für ein Konzert nach Dresden kommt, sondern danach oder davor vielleicht noch in Berlin oder Prag auftritt. Wir werden aber weder auf Orchestergastspiele verzichten noch in zwei Jahren ausschließlich regionale Kammermusik anbieten, das widerspräche unserem Auftrag. Aber wir werden zum Beispiel unser Dresdner Festspielorchester in den nächsten Jahren für einen längeren Zeitraum als Residenzorchester nach Dresden holen. Das ist uns auch deswegen ein großes Anliegen, weil wir damit viele freischaffende Musiker aus der Szene der Alten Musik fördern. Auch die Cellomania ist schon ein Schritt in diese Richtung: Die Cellisten bleiben eine Weile hier und spielen zum Abschluss gemeinsam in der Langen Nacht des Cellos.
Mit der „Cellomania 2.0“ gibt es nach 2018 wieder ein Festival im Festival. Herr Vogler, was hat sich verändert?
Vogler: Das Vertrauen in das Format. Beim ersten Mal fand ich die Idee riskant: So viele Konzerte nur ums Cello. Deswegen hatten wir das 2018 noch gebündelt: sechs Bach-Suiten mit sechs verschiedenen Interpreten, fünf Beethoven-Sonaten mit fünf Interpreten, aber das in nur zwei Konzerten. Das ist jetzt viel individueller. Fast jeder Cellist, der ein eigenes Publikum hat, bekommt auch sein eigenes Konzert. Viele Kollegen, die anreisen, haben sich leidenschaftliche Programme für Dresden überlegt. Kian Soltani und das Ensemble Shiraz werden zum Beispiel traditionelle persische Musik spielen. Bei der Planung waren wir anfangs skeptisch, ob überhaupt so viele Leute zu Cellokonzerten kommen. Die Antwort ist: Ja! Das Kartenkontingent ist vier Mal größer als 2018 und ein Großteil der neunzehn Konzerte bereits ausverkauft. Auch die Meisterkurse mit drei großen Pädagogen des Cellos – David Geringas, Ivan Monighetti und Miklós Perényi – finden großen Anklang.
Sol Gabetta, Mischa Maisky, Harriet Krijgh, Gautier Capuçon… Während der Cellomania versammelt sich das Who’s who der Cellowelt bei Ihnen in Dresden. Was fühlen Sie dabei?
Vogler: Ich heische mir nicht an zu sagen, das sind die Cellisten, es gibt so viele tolle Kollegen auf der Welt. Bei der Auswahl haben wir uns gefragt, wer in der Cellowelt viel bewegt. Wer starke Impulse vermitteln kann, soll in Dresden zeigen, wie seine persönliche Herangehensweise an das Instrument ist. Einige Kollegen spielen zart und bewegen sich in einem sensiblen, intimen Bereich, pflegen die ziselierte französische Tradition. Andere spielen in der Rostropowitsch-Tradition sehr kräftig, ich wiederum bin in der deutschen Celloschule aufgewachsen, die nur in der DDR überlebt hatte. Wir wollen dem Publikum einen Eindruck davon geben, wie unterschiedlich man mit diesen vier Saiten umgehen kann.
Unterschiede erlebt das Publikum auch mit genreübergreifenden Künstlern wie der finnischen Band Apocalyptica.
Vogler: Natürlich! Ich habe keine Bedenken, gute Leute nach Dresden zu holen, die das klassische Genre verlassen aber gute Ideen haben. Ich selbst bin mit Eric Clapton und Bill Murray aufgetreten. Diese Erweiterung beeinflusst uns doch alle! Ich bin stolz, dass Apocalyptica endlich kommen können, denn sie führen nochmal ein anderes Publikum an das Cellothema heran.
Welches persönliche Anliegen haben Sie mit der Cellomania?
Vogler: Ich möchte zeigen, dass wir Cellisten nicht für uns alleine kämpfen, sondern Kollegen sind und Freundschaften pflegen. Durch viele jüngere Kollegen hat das Cello in den letzten zwanzig Jahren ein noch breiteres Publikum gewonnen. Sie erbringen fantastische Leistungen und ich glaube, sie brauchen hier und da auch Hilfe im Establishment. Durch die Pandemie wurden viele Debüts verschoben oder sind ganz ausgefallen. Mit der Cellomania will ich etwas für unser Instrument und meine Kollegen tun. Natürliche trete ich dabei auch selbst auf. Ich kann mir nicht vorstellen, die Festspiele zu führen ohne auch Cellist zu sein. Die notwendige Inspiration beziehe ich aus dem Konzertleben und der täglichen Arbeit am Instrument.
Das Motto lautet in diesem Jahr „Zauber“. Welcher Zauber geht von den Dresdner Musikfestspielen nach dem pandemiebedingten Stillstand aus?
Vogler: Wir haben während der Pandemie die Verzauberung vermisst, die im Konzert stattfindet, daher auch das Motto. Stellen Sie sich vor, ein Paar kommt gestresst an der Spielstätte an, gibt seine Garderobe ab, rast auf seine Plätze und ist gedanklich vielleicht noch bei den Arrangements, die nötig waren, um an diesem Abend überhaupt ins Konzert kommen zu können. Die Musik setzt ein. Nach der Vorstellung sehen wir Künstler dann Menschen mit weit nach oben zeigenden Mundwinkeln und einem Glänzen in den Augen. Sie sind innerlich glücklich. Das ist eine Verzauberung, die materielle Dinge nicht garantieren können. Musik aber schon.
Eine Verzauberung, die kein Stream leisten kann?
Vogler: Ein Konzert bei den Dresdner Musikfestspielen ist eine möglichst gelungene Kombination aus Spielstätte, Künstler und Programm. Ein Stream ist der Next-Best-Sale, bei dem auch Tränen fließen können, aber das Live-Erlebnis ist unschlagbar. Gleichwohl bin ich überzeugt, dass der Stream angesichts der aktuellen Probleme in der Welt ein fester Bestandteil des Konzertlebens werden wird und wir dadurch vielen Menschen eine Freude machen, die nicht viele tausend Kilometer für ein Live-Konzert reisen können. Ich denke hier an unser asiatisches Publikum, für das sich momentan eine Reise nach Dresden schwierig gestaltet.
Welche weiteren dramaturgischen Akzente setzen die Dresdner Musikfestspiele?
Vogler: Es gibt viele fantastische Festivals in Europa, aber wir sind in Punkto Vielfalt ungewöhnlich breit aufgestellt: von den großen Orchestern wie dem der Mailänder Scala und den Wiener Philharmonikern über Weltmusik und Jazz bis zu Clubformaten für junge Leute und reinen Pop-Konzerten. In diesem Jahr zeigen wir erstmals auch Musikfilme. Ich freue mich, dass Thomas Adès das London Philharmonic Orchestra nicht nur dirigieren, sondern auch eine neue Eigenkomposition mitbringen wird (Suite nach „The Tempest“, d. Red.). Unser Publikum ist in die Reihe der jährlichen Uraufführungen hineingewachsen. Das Konzert mit Thomas Adès werden wir wahrscheinlich ausverkaufen, was für ein Programm mit viel zeitgenössischer Musik ein schöner Erfolg ist. Für 2023 hoffen wir auf die Zusage für das Nachholkonzert von Sting, der ja 2020 und 2021 coronabedingt nicht bei uns auftreten konnte. Als Intendant will ich in den kommenden Jahren noch stärker zeigen, wie breit ein Klassikfestival sein kann. Am Ende geht es vor allem um gute Musik, weniger um ihr Genre oder ihren Ursprung.