Was ist 2020 für Sie: Beethoven-Jahr oder Corona-Jahr?
Malte Boecker: Eine gute Frage, aber das bestimmende Thema ist Corona, alles andere ordnet sich dem unter. Es gibt eine Management-Theorie, die besagt, dass es immer mal wieder einen „Black Swan“ gibt, also ein unvorhersehbares Ereignis, das alle Annahmen über Bord wirft. So ist das auch jetzt ein bisschen. Es ist Beethoven-Jahr, man rechnet mit einem weißen Schwan, und stattdessen kommt Corona – der schwarze Schwan. Die gesamte Kultur basiert eigentlich auf Nähe und Gemeinschaftserlebnissen. Wenn man nun genau das zu vermeiden versucht, dann ist dieser Boden, auf dem der ganze Kultur- und insbesondere der Musikbetrieb steht, in Frage gestellt. Das war schon ein gravierender Einschnitt.
Wie ist denn die weitere Planung für das verbleibende Beethoven-Jahr?
Boecker: Der Kulturbetrieb ringt darum sichtbar zu bleiben und versucht sich auf andere Art und Weise Gehör zu verschaffen. Das waren anfangs die Wohnzimmerkonzerte, später dann die Autokino-Konzerte, die plötzlich aus dem Boden schossen. Jetzt sind wir schon wieder einen Schritt weiter mit richtigen Konzerten mit geringeren Zuschauerzahlen und Abstandsregelungen. Aber man ist immer noch dabei, erst mal den Spielraum der Möglichkeiten auszutesten.
Kann man so ein Ereignis wie das Beethoven-Jubiläum verschieben?
Boecker: Geburtstage fallen, wie sie fallen. Dennoch ist das Beethovenjahr 2020 jetzt quasi verlängert worden, so dass die ganze Fördersystematik bis Mitte 2021 funktioniert. Das gibt erst mal Raum für alle, ihre Projekte nach hinten raus zu realisieren. Es gibt ja nur zwei Strategien: Entweder man passt sich der Situation an und wandelt die Projekte um – das ist dann dieser Hang zur Digitalisierung. Oder man sagt: Das funktioniert für mein Projekt nicht. Dann schiebt man es eben hinaus, bis wieder Proben und Veranstaltungen mit Publikum möglich sind. So haben wir die Tür bis September 2021 geöffnet. Beethovens Geburtstag ist erst Mitte Dezember, insofern kann man auch ganz gut in das Jahr 2021 hineinfeiern. Für uns sind die Schwierigkeiten eher handwerklich. „Verschiebung“ klingt immer sehr banal, aber de facto ist das immer eine Neuplanung.
Was war für Sie in den letzten Wochen der schlimmste Moment als Direktor des Beethoven-Hauses?
Boecker: Seit ich 2012 nach Bonn gekommen bin, haben wir uns am Beethoven-Haus Gedanken darüber gemacht, was der Beitrag unserer Institution für diesen weltweit gefeierten Jahrestag sein wird. Es war ein sehr langer Vorlauf und die Institution hat sich wirklich an die Decke gestreckt, um das Museum rechtzeitig in neuem Glanz präsentieren zu können, um wissenschaftliche Kongresse vorzubereiten und um ein musikalisches Konzertprogramm zu entwickeln, das Impulse setzt. Wir sind in der letzten Zeit wirklich mit vollem Tempo unterwegs gewesen. Dann zieht plötzlich einer den Stecker und man kommt aus der vollen Fahrt auf null. Das war für alle schmerzhaft. Ich werde diesen Moment nie vergessen, als ich dann das Beethoven-Haus abschließen musste. Aber die Motivation der Mitarbeiter ist zum Glück geblieben, und wir versuchen jetzt so schnell wie möglich wieder alles hochzufahren. Unser neuer Präsident Daniel Hope war auch eine der Schlüsselfiguren, um der klassischen Musik aus diesem Lockdown heraus weiterhin Sichtbarkeit zu geben. Er ist da wirklich ein Vorbild. Insofern bin ich eigentlich ganz zuversichtlich, dass das Jubiläumsjahr jetzt so langsam wieder Fahrt aufnimmt.
Gibt es auch positive Erfahrungen, die Sie während der Krisenzeit gemacht haben?
Boecker: So eine Zeit macht unheimlich Druck, innovativ zu werden. Gerade der klassische Musikbereich neigt normalerweise nicht so zur Innovation. Wir sind doch noch sehr in den Formen des 19. Jahrhunderts verhaftet, wenn es darum geht, wie man diese Musik präsentiert. Das gleiche gilt für neues Repertoire. Es dauert lange, bis sich neue Stücke im normalen Spielbetrieb durchsetzen. Aber durch die Krise gab es jetzt einen spürbaren Schub zur Innovation, etwa die starke Einbindung neuer Medien wie auch Neuer Musik, die sich auf die aktuelle gesellschaftliche Situation bezieht. Außerdem ist in diesem Jubiläumsjahr ein Verständnis dafür gewachsen, welches Geschenk die Möglichkeit ist, Livekonzerte und klassische Musik von großartigen Künstlern mit vielen anderen Menschen gemeinsam zu erleben. Das sehe ich auch positiv, denn die eigentliche Gefahr des Jubiläumsjahres war, dass aufgrund eines sehr vielfältigen und großen Angebots auch Müdigkeitserscheinungen beim Publikum auftreten könnten. Aber so wie es sich jetzt entwickelt hat, ist es genau andersherum, nämlich dass der Hunger auf klassische Musik und auf Beethoven extrem zugenommen hat.
Wie wichtig ist klassische Musik für die Menschen in dieser Zeit?
Boecker: Das hängt natürlich davon ab, wen man fragt. Ich bin eigentlich davon überzeugt, dass das Angebot der klassischen Musik nur eine kleine gesellschaftliche Minderheit tatsächlich erreicht. Es ist mehr eine Subkultur. Ich würde mir wünschen, dass es uns aus dieser Ecke heraus gelingt, klassische Musik für mehr Menschen so erlebbar zu machen, dass es sie begeistert. Das war auch eines der Ziele, das wir uns für das Beethoven-Jubiläum gesetzt hatten: vielen Menschen neue Zugänge zu diesem kulturellen Erbe zu ermöglichen. Aber man muss auch realistisch bleiben und sagen, dass die Klassik im Wettbewerb mit vielen anderen Kulturangeboten und Freizeitaktivitäten steht.
Warum könnte gerade Beethovens Musik den Menschen helfen?
Boecker: Beethoven hat es mit seiner Musik geschafft, sich gegen Widerstände durchzusetzen. Er war aufgrund seiner Schwerhörigkeit immer in einer existenziellen Krise und hat trotzdem durchgehalten, wie er ja mit diesem berühmten Satz zeigte: „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, ganz niederbeugen soll es mich gewiss nicht.“ Seine Vita steht dafür, dass man über Kultur, über etwas, was einem Kraft gibt, Resilienz entwickeln kann, um auch mit Rückschlägen fertig zu werden. So sehe ich Beethoven als jemanden, der mit Musik sein Leben meistert und dadurch auch ein Vorbild ist.