Corona hat die Kulturbranche hart getroffen. Gehört arte dagegen zu den Profiteuren der Pandemie?
Wolfgang Bergmann: Zu den schlimmsten Charakteren gehören ja bekanntlich die Kriegsgewinnler, und mit denen wollen wir nichts zu tun haben. Aber es stimmt: Viele Menschen – ich persönlich auch – haben Kunst und Kultur als Live-Erlebnis in den letzten anderthalb Jahren schmerzlich vermisst. Und sie haben die Angebote bei arte, die wir in der Zwischenzeit auch ganz bewusst verstärkt haben, gerne angenommen, um damit sozusagen zu „überwintern“ – natürlich auch mit tatkräftiger Unterstützung vieler Künstlerinnen und Künstler, die diese Situation auch als Kreativraum genutzt haben, um sich neu, anders und der Zeit angemessen zu artikulieren.
Was hat sich durch die Pandemie beim Sender verändert?
Bergmann: Wir haben natürlich auf eine ganze Reihe von liebgewonnenen Ritualen im Programm verzichten müssen, wenn ich zum Beispiel an das gesamt Pop- und Rockfestivalangebot denke, an die Vielzahl der Live-Konzerte mit Publikum, die alle nicht stattgefunden haben. Auch eine ganze Reihe von Dokumentationen und Reportagen konnten so nicht gemacht werden. Aber wir haben zwei Dinge getan: Erstens haben wir versucht, durch Lizenzen, die wir erworben haben, das Repertoire aufzufüttern und ständig ein breites, frei verfügbares Angebot online zu haben. Zum anderen haben wir Formate unterstützt und zum Teil auch selbst initiiert, die aus der Not eine Tugend gemacht haben und mit der Situation ohne Publikum, ohne große Räume und ohne große Ensembles kreativ umgegangen sind.
Hat sich denn die Quantität insbesondere der Konzert- und Opernangebote erhöht in dieser Zeit?
Bergmann: Ich habe sie nicht einzeln nachgezählt, aber wir haben unser Angebot sicherlich nicht verringert in der Corona-Zeit, sondern tendenziell im Volumen eher erhöht. Definitiv vergrößert hat sich unser Publikum. Wir hatten während der Lockdown-Zeit teilweise bis hundert oder hundertfünfzig Prozent mehr Nutzung. Das ist natürlich bemerkenswert. Auf unserer Streaming Plattform „arte Concert“ hat sich sogar eine neue Primetime gegenüber dem linearen Fernsehen herausgebildet: Insbesondere in der Zeit zwischen etwa 18:30 bis 20 Uhr hatten wir regelmäßig die Publikumsspitzen zu verzeichnen. So richtig erklären kann ich es mir nicht. Seinen Anteil daran hatte sicherlich Daniel Hope mit seinen Wohnzimmerkonzerten, aber die waren wohl nicht der einzige Grund.
Die Auswirkungen der Coronakrise auf das Kulturleben ändern sich ständig. Wie reagiert der Sender darauf?
Bergmann: Wir haben auf unseren verschiedenen Ausspielwegen unterschiedliche Reaktionszeiten. Im linearen Programm müssen wir langfristige Planungssicherheit schaffen. Im non-linearen, also auf unserer Streaming-Plattform „arte concert“, können wir sehr kurzfristig reagieren und passen uns selbstverständlich den Gegebenheiten an. Im letzten Jahr zum Beispiel haben wir bis zum letzten Augenblick gezittert, ob die Salzburger Festspiele, die wir ja ganz stark ins Programm genommen haben, stattfinden konnten. Letztendlich war es natürlich auch ein Riesenerfolg. Wir haben Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern in aller Welt erreicht und damit bewiesen, dass es noch ein anderes Publikum gibt, das sich auch auf diesem Weg ansprechen lässt. Aktuell versuchen wir, auf die sachten Öffnungsversuche auch kurzfristig einzugehen. Wir versuchen aber natürlich auch, unseren Beitrag dazu zu leisten, dass der Festivalbetrieb, der Konzert- und Kulturbetrieb an sich wieder in Gang kommt. Das ist jetzt das Wichtigste. Wir sind auf Dauer kein Ersatz für kulturelles Leben, sondern sehnen es ja selbst herbei, Kultur in Fleisch und Blut und nicht nur per Bildschirm zu erleben.
Beobachten Sie eine mediale Entwicklung, die das Publikum vom linearen Fernsehen mehr ins Internet zieht?
Bergmann: Die Fama dieser Entwicklung entwickelt sich schneller als die Realität. Auch heute ist das lineare Fernsehen von zentraler Bedeutung. Das wird auch sicherlich noch eine ganze Weile so bleiben. Gleichwohl sind die Zuwachsraten im non-linearen Bereich zu erkennen und es sind natürlich bestimmte Zielpublika, die dort in besonderer Weise unterwegs sind und die gerade auch für die Zukunft von enormer Bedeutung sind. Im Ergebnis müssen wir also auch in Zukunft ein gutes lineares traditionelles Fernsehangebot bereithalten, in dem Musik und Kulturvermittlung präsent sind. Daneben rüsten wir digital auf. Wir haben auch jüngst in einem neuen Unternehmensplan festgehalten, dass „arte Concert“ ein zentraler Baustein im weiteren Auf- und Ausbau von arte sein wird. Wir sind überzeugt, dass das eine sehr starke Zukunft hat und dass der Bedarf für ein gut kuratiertes, internationales Musikstreaming-Angebot, wie „arte Concert“ es vorhält, groß ist.
Sie denken nicht, dass der Multimedia-Bereich das lineare Fernsehen irgendwann ersetzen wird?
Bergmann: Gegen das „irgendwann“ würde ich mich nicht stemmen. Aber Totgesagte leben länger. Viele Digitalanbieter beginnen zurzeit, zu re-linealisierten Programmangeboten zurückzukehren, weil Sie festgestellt haben, dass das Bedürfnis für sogenannte Lean-Back-Angebote – das heißt, Angebote, bei denen man einfach einen Kanal einschaltet und das guckt, was einem dort gezeigt wird – vorhanden ist. Klar gibt es so ein Alterssegment, etwa die 14- bis 29-Jährigen, in dem eine lineare Fernsehnutzung schon eher die Ausnahme ist. Aber im Kern muss uns das eigentlich gar nicht so sehr umtreiben.
Gibt es Formate, die das Publikum zurzeit besonders nachfragt?
Bergmann: Ich bin sehr erstaunt über das Comeback der klassischen Musik. Wir haben eine signifikant gute Nachfrage für die klassischen Angebote. Ich würde das schon als Folge der Corona-Zeit betrachten. Natürlich ziehen große Werke, große Namen, große Opern das Publikum an, aber wir haben eben auch ein Angebot, das versucht, in die Breite zu gehen. Wir haben Formate für das Netz entwickelt, wie „Hope@Home“ oder „Open Stage“, die ausgesprochen gut funktioniert haben. Manche Erkenntnisse und Erfahrungen davon wird man sicher auch in die Zeit nach Corona herüberziehen.
Haben sich Kultursendungen verändert in letzter Zeit, vor allem im Hinblick auf gesellschaftskritische oder politische Inhalte?
Bergmann: Ich glaube, dass Kultur und Kunst einerseits Seismograph kultureller, gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen sind. Auf der anderen Seite wird auf solche Entwicklungen manchmal auch erst mit größerer Verzögerung reagiert. Ich würde meinen, dass die kulturelle Verarbeitung und der eigentliche kulturelle Prozess, den Corona ausgelöst hat, sich erst in den nächsten Jahren entwickeln werden. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass diese Zwangspause, die die Institutionen sowie die Künstlerinnen und Künstler individuell erlebt haben, ohne kreatives Echo vorübergeht.
Inwiefern konnte arte den Kunstschaffenden durch Zusammenarbeit während der Krise helfen?
Bergmann: Große Institutionen wie die Salzburger Festspiele habe ich ja bereits genannt, aber der Bogen spannt sich deutlich weiter. In der Aktion „I dance my Story“ beispielsweise widmen wir uns der Streetdance-Szene, von der in der Covid-Zeit irgendwie niemand geredet hat und die vollständig durch das Raster der Corona-Hilfen gefallen ist. Dabei ist das eine extrem reichhaltige Szene mit ganz vielen Leuten, die großartige Kunst machen.
Streetdance dürfte vor allem auch junge Menschen ansprechen. Streben Sie es generell an, ein jüngeres Publikum an kulturelle Inhalte heranzuführen?
Bergmann: Ich denke 98,9 Prozent aller Medienfunktionäre würden auf diese Frage mit einem donnernden „Ja!“ antworten. Ich bin da ehrlich gesagt etwas zögerlicher. Es gibt ein Grundrecht aller Menschen auf gute mediale Grundversorgung, ob jung, ob alt. Man sollte zwar unbedingt auch junge Zuschauerschichten erschließen, aber sich nicht in irgendeinen Jugend- oder Verjüngungswahn verrennen.
Welche Reaktionen gab es auf den Beethoven-Tag bei arte am 6. Juni?
Bergmann: Die neun Beethoven-Symphionien aus neun europäischen Städten, sieben davon live aufgeführt, alle hintereinander ausgestrahlt waren wirklich ein Highlight und ein Hoffnungsschimmer für das Wiederaufrichten des Kulturlebens in Europa. Und als solches ist es von einem Millionenpublikum wahrgenommen worden. Sowohl das quantitative wie auch das qualitative Ergebnis in Gestalt von zahllosen begeisterten, zum Teil sehr emotionalen Kommentaren und Zuschriften haben da neue Maßstäbe für die Rezeption klassischer Musik im arte-Programm gesetzt.