Das Siemens Arts Program ist ein operatives Kulturprogramm, das international tätig ist und nicht nur Geldgeber und Veranstalter ist, sondern selbst auf die Suche nach den Ideen von morgen geht. Ein aktuelles Projekt ist Namibias erste Oper „Chief Hijangua“, die in Zusammenarbeit des namibischen Komponisten Eslon Hindundu mit der Münchner Regisseurin Kim Mira Meyer entstanden ist und das Thema Kolonialismus aufarbeitet. Im letzten Herbst wurde „Chief Hijangua“ in der namibischen Hauptstadt Windhoek uraufgeführt. Am 15. September kommt die Oper als europäische Erstaufführung nun auf die Bühne des Großen Sendesaals im Haus des Rundfunks in Berlin.
Welche Kriterien muss ein Projekt erfüllen, damit es vom Siemens Art Program unterstützt wird?
Stephan Frucht: Wir überlegen selbst, was interessante Themen und Schwerpunkte sein könnten und wo wir künstlerische Akzente setzen können, um auch Menschen aus einem weniger künstlerischen Umfeld zu inspirieren. Das ist eine richtige Herkulesarbeit, wenn man bedenkt, dass das neben der Musik auch die bildende und die darstellende Kunst betrifft. Wir unterscheiden uns auch darin, dass wir zu den Menschen reisen und sie nicht nur zu uns einladen, wie es viele Festivals tun. Wir sind also an verschiedenen Hotspots in der Welt unterwegs, so auch in Namibia. Ein anderes Beispiel ist der Siemens Opera Contest in Istanbul. In der Türkei gibt es so gut wie keine Opernwettbewerbe, was es Talenten so gut wie unmöglich macht, entdeckt zu werden. Deswegen gehen wir gerne in Gebiete, die nicht unbedingt auf der aktiven Musiklandkarte stehen, bei denen aber mit Sicherheit zu erwarten ist, dass es dynamische Gesellschaften gibt, die allein von der demographischen Beschaffenheit her junge Talente hervorbringen werden. Dabei hilft die Struktur des international aufgestellten Siemens Konzerns, der eine ganz große Reichweite in die Gesellschaft und Kenntnisse über entsprechende Länder hat. Das ist vielleicht interessanter als ein Programm, das lediglich eine Stadt repräsentiert.
Was sind die Ziele des Siemens Arts Programs?
Frucht: Siemens ist Ermöglicher. Wir möchten die Menschen – neudeutsch gesagt – „empowern“, also ihnen die Chance geben, ihr Können weiterzuentwickeln, und ihnen das Selbstbewusstsein geben, um damit auch beruflichen Erfolg zu haben. Außerdem ist uns die kulturelle Bildung sehr wichtig. Wir überlegen uns, wie wir aktuelles und neues Publikum erreichen können. Dazu bieten wir beispielsweise Mini-Masterclasses an, bei denen junge Musikerinnen und Musiker den Preisträgerinnen und Preisträgern des ARD-Musikwettbewerbs vorspielen, mit ihnen musizieren und sich Tipps von ihnen holen können. Danach haben sie einen ganz anderen Bezug zu den Konzerten dieser Künstler. Wir möchten aber auch die Zielgruppe zwischen 30 und 55 Jahren erreichen, die aufgrund ihres Jobs oder ihres Alltags wenig Zeit haben, abends noch ins Konzert zu gehen. Hier ermöglichen wir Partizipation durch Workshops, digitale Formate oder besondere Konzerterlebnisse. Denn wenn man etwas aktiv erlebt, entsteht ein neurophysiologischer Affekt, dessen Effekt viel größer ist als beim rein passiven Beobachten.
Wie sind Sie auf das Opern-Projekt aufmerksam geworden?
Anke Bobel: Ein Pressesprecher hat mich darauf aufmerksam gemacht. Eigentlich suchen wir uns ja eigene Projekte und sind weniger im klassischen Sponsoring unterwegs. Aber ich habe mir das Konzept angesehen und war sofort begeistert. Das war im Herbst 2021, da war das Opern-Team noch ganz klein und stand am Anfang seiner Arbeit.
Was hat Sie überzeugt, mit den jungen Künstlern zusammen zu arbeiten?
Bobel: Ich war fasziniert von dem Mut und der Leidenschaft des Teams ein internationales Projekt über mehrere Länder hinweg auf die Beine zu stellen, auch wenn damals noch kein großes Netzwerk existierte. Es ist die erste Oper, die auf Otjiherero und auf Deutsch gesungen wird. Und wir haben an das Team geglaubt. Wir haben Eslon Hindundu und Kim Mira Meyer kennengelernt und uns sofort sehr gut mit beiden verstanden. Es geht ja beiden darum, eine Versöhnung herzustellen, eine Brücke zu bauen und jungen Menschen aus beiden Ländern die Chance zu geben, sich besser kennenzulernen. Mittlerweile sind bestimmt über 300 Menschen in Namibia, Deutschland, aber auch Südafrika in das Projekt involviert.
Frucht: Eine solche Zusammenarbeit macht in einem Land wie Namibia auch deshalb Sinn, weil es eine große musikalische Tradition hat, die uns in Deutschland kaum bewusst ist. Daher möchten wir nicht nur unseren Beethoven oder unseren Mozart dorthin exportieren, sondern die Künstler auch dazu einladen, ihre eigene Musik und das eigene Musikverständnis nach Deutschland oder Europa zu bringen.
Wie genau unterstützen Sie das Projekt?
Anke Bobel: Wir haben zunächst die Beteiligten persönlich kennengelernt und einen kurzen Film über die ersten Proben gedreht, den man sich auch auf unserer Website anschauen kann. Ich selbst bin dann auch nach Namibia zur Welturaufführung der Oper „Chief Hijangua“ gereist und habe vor Ort mitgeholfen. Jetzt sind wir auch Partner bei der Europapremiere in Deutschland, unterstützen beim Projektmanagement und bei der Kommunikation. Ich werde auch in Berlin vor Ort sein, und jederzeit mit anpacken, und sei es, um Kostüme von A nach B zu tragen.
Die Oper erzählt von der deutschen Kolonialisierung in Namibia. Ein Thema, das in Deutschland eher selten thematisiert wird.
Bobel: Ich glaube, dass das Thema gerade sehr aktuell ist, auch durch den Film „Der vermessene Mensch“, der gerade in den Kinos lief, und das Humboldt Forum, das sich stark damit auseinandersetzt. Im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung wird der Wunsch nach Versöhnung mit Namibia auch angesprochen. Ich glaube aber, dass viele nicht wissen, wie grausam die Kolonialzeit in Namibia war, weil es auch in den deutschen Schulen kaum thematisiert wird. Aber Eslon Hindundu und Kim Mira Meyer wollen mit ihrer Oper noch weiter gehen und wirklich eine Brücke zwischen den beiden Ländern schaffen.
Wie kommt es denn, dass in Namibia zuvor noch nie eine Oper komponiert wurde? Sänger und Komponisten gibt es ja.
Bobel: Das weiß ich nicht, aber die Infrastruktur für die klassische Musik ist in Namibia sicherlich anders als in Deutschland, was die Ausbildung, Förderung sowie die Auftritts- und Aufführungsmöglichkeiten betrifft. Und Namibia hat eine eigene diverse Musikkultur, wie Stephan Frucht auch gerade gesagt hat. Außerdem ist die Jugend stark beeinflusst vom Jazz und vom Hip-Hop Nordamerikas und in den namibischen Clubs hört man die Einflüsse Südafrikas und Nigerias im Bereich der elektronischen Musik wie Gqom, Afrobeat und Amapiano. Diese Musik kann man auch in den Berliner Clubs hören. Interessant wird es ja, wenn Einflüsse verschiedener Musikrichtungen etwas ganz Neues entstehen lassen und unsere Hörgewohnheiten provozieren.
Sie waren letztes Jahr bei der Uraufführung in Namibia dabei. Wie klingt denn die Oper?
Bobel: Die Musik ist wunderschön und sehr herzerwärmend, und ich habe immer Tränen in den Augen, wenn ich sie höre. Aber das verbindet sich auch mit dem Erlebnis in Namibia vor Ort. Manchmal höre ich auch deutsche Kinderlieder heraus, aber ich traue mich nicht, Eslon Hindundu zu fragen, weil ich nicht weiß, woher die Einflüsse kommen, ob das vielleicht noch ein Überbleibsel der Kolonialzeit ist. Die gibt es aber sicherlich durch die Kirche und die Kirchenchöre in Namibia. Hindundu möchte mit der Musik einen leichten Zugang zu seinem Werk schaffen und auch Menschen dafür begeistern, die sich in ihrem Leben noch nie mit der Oper beschäftigt haben, und sie über Kontinente und Ethnien hinweg erreichen.
Wie ist die Arbeit mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) zustande gekommen?
Bobel: Das lief über das Opernteam, da Eslon Hindundu mit einigen Musikern befreundet ist. Es ist also ein richtiges Freundschaftsprojekt und eines, das Hoffnung macht auf viele weitere Projekte zwischen beiden Ländern. Aber mit dem RSB haben wir selbst auch eine intensive eigene Verbindung. Unsere Einspielung des Klavier-Konzertes von Viktor Ullmann mit dem RSB, der Pianistin Annika Treutler und unter Leitung von Stephan Frucht war eine Gemeinschaftsproduktion, die einen Opus Klassik gewonnen hat.