Herr Rose, warum wurde die Rundfunk und Chöre gGmbH Berlin vor dreißig Jahren, vier Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, gegründet?
Anselm Rose: Nach der Wiedervereinigung bestand in Berlin ein Konsens, dass die vier großen Rundfunk-Ensembles aus Ost und West bestehen bleiben sollten. Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin ist das älteste deutsche Rundfunkorchester, und der Rundfunkchor Berlin feiert dieses Jahr seinen hundertsten Geburtstag. Auch die beiden West-Berliner Einrichtungen, das heutige Deutsche Symphonie-Orchester – früher hieß es RIAS- bzw. Radio-Symphonie-Orchester – und der RIAS Kammerchor sind schon knapp achtzig Jahre alt. Es galt also große Traditionen zu bewahren. Gleichwohl wollte oder konnte keine Institution für diese vier Ensembles die rechtliche und finanzielle Verantwortung allein übernehmen. Also sollten doch die, die am meisten von der Arbeit dieser Rundfunkensembles profitieren, als Gesellschafter auch deren Kosten teilen. Das waren das damals neu formierte Deutschlandradio – das auch immer noch größter Anteilseigner der gGmbH ist –, die Bundesrepublik Deutschland, das Land Berlin und der Rundfunk Berlin-Brandenburg. Eine GmbH als Rechtsform für Kultureinrichtungen zu gründen, war damals eine ganz neue Idee und auch ein ziemlich gewagter Schritt. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, aber auch ein sehr kluger. Später ging daraus dann eine gGmbH, also eine gemeinnützige GmbH hervor.
Sehen Sie diese bestehende Struktur der Finanzierung in irgendeiner Form gefährdet?
Rose: Wenn man vier Rechtsträger hat, muss man sich über die Finanzierung immer wieder verständigen. Wir planen in Vierjahreszyklen auf Grundlage eines Hörfunk-Überleitungsstaatsvertrags – also analog der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten. Er bildet die gesetzliche Grundlage für die ROC und damit auch für die Anteile, die jeder Gesellschafter hat, welche wiederum die Bemessungsgrundlage für die Finanzierung der ROC bilden. Bei den beiden Rundfunkanstalten ist die Finanzierung durch den Rundfunkbeitrag abgedeckt. Bei Bund und Land handelt es sich um politische Gebietskörperschaften mit vorgeschalteten parlamentarischen Prozessen. Da können sich in Haushaltskrisen Situationen ergeben – das hat es auch schon gegeben –, dass einer der Gesellschafter sich nicht mehr in der Lage sieht, die erforderlichen Zuschüsse zu leisten. Da ist dann die gesetzliche Grundlage eine große Hilfe, dass die Gesellschafter sich konstruktiv verständigen.
Anfang des Jahres hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder vorgeschlagen, zur Sanierung des Finanzhaushalts die bestehenden 24 Rundfunk-Klangkörper der Bundesrepublik auf zwölf zu reduzieren, ohne dass dies – so Söder – die Qualität der Kultur beeinträchtigen würde. Was halten Sie von dieser Aussage?
Rose: Davon halte ich gar nichts. Es hat schon einen tieferen Sinn, dass es regionale Rundfunkstationen mit regionalen Rundfunkensembles gibt. Die Qualität und musikalische Leistung dieser Klangkörper sind meistens sehr hoch. Zudem erfüllen sie eine ganz bestimmte Rolle für den Rundfunk und die Menschen vor Ort. Wir sind sozusagen das analoge Live-Erlebnis, das Rundfunkanstalten zur Verfügung stellen können, womit sie eine Verbindung schaffen zu den Menschen vor Ort. Insofern bin ich auch ein wenig stolz, dass die ROC mittlerweile die strukturelle Benchmark ist. Tom Buhrow, der Intendant des WDR, hat zwar nicht gerade gut über die Rundfunk-Ensembles in diesem Land gesprochen, aber die ROC dadurch geadelt, dass er sie als beispielhaft darstellte für die Art und Weise, wie man Rundfunkensembles zukünftig aufstellen kann. Die Rundfunkkommission hat bereits die KEF – die Kommission zur Ermittlung des Finanzbedarfs der Rundfunkanstalten – um Prüfung gebeten, ob nicht alle Rundfunkensembles in Deutschland nach dem Muster der ROC firmiert werden können, unter Beteiligung anderer Partner.
Sie betonen immer wieder die direkte Nähe der vier Rundfunk-Klangkörper zu den Menschen der Stadt. Können Sie diese Aussage etwas konkretisieren?
Rose: Grundsätzlich sind unsere vier Berliner Ensembles für ihre musikalische Exzellenz berühmt und natürlich auch für ihre künstlerische Avantgarde. Hier probiert man neue, ungewöhnliche Formate und Programminhalte aus, die sonst vielleicht nur noch in Metropolen wie Paris oder London geboten werden. Die musikalische Exzellenz entsteht auch durch die Flexibilität, die Rundfunkklangkörper ja grundsätzlich haben. Die Strategie, die ich „ROC 2026“ genannt habe, basiert auf der Frage, was Rundfunkensembles – heutzutage spricht man auch von Medienensembles – im 21. Jahrhundert auszeichnet. Die Antwort ist: Wir sind diejenigen, die Musik für alle machen, sei es analog im Konzert, in unseren Musikvermittlungsprogramm – wir haben das umfangreichste in ganz Berlin –, live oder zeitversetzt im Rundfunk und zunehmend auch on demand digital. Wir wollen einen barrierefreien Zugang gewährleisten und unsere Musik 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche zur Verfügung stellen. Um dieses Ziel zu erreichen, investieren wir im Rahmen von „ROC 2026“ mit Hilfe unserer Gesellschaft in die digitale Infrastruktur, was die musikalische Produktion, aber auch die Distribution anbelangt.
Die ROC erreicht mit ihren vier Klangkörpern zunehmend mehr Menschen, wo andere Veranstalter immer noch den nachpandemischen Publikumsschwund beklagen. Allerdings nutzen Sie zusätzlich zum Live-Angebot auch die eben erwähnten Verbreitungskanäle. Wie hat sich der Publikumszuspruch in diesen einzelnen Bereichen entwickelt. Beobachten Sie dort signifikante Verschiebungen?
Rose: Nein. Bei den über 1,8 Millionen Menschen, die uns jährlich an den Rundfunkempfangsgeräten hören, entwickeln sich die Zahlen zwar auch positiv. Vor allem aber bei den Live-Konzerten vor Ort steigen die Zuschauerzahlen und haben bereits wieder das vorpandemische Niveau erreicht. Das ist zum einen sicherlich inhaltlich begründet. Wenn etwa das Deutsche Symphonie-Orchester mit einem Saisonmotto „Kein Konzert ohne Komponistin!“ nicht nur musikalisch eine Abenteuerreise unternimmt, sondern auch mit Symposien und entsprechendem Kontext dieses Thema zur Diskussion stellt, dann ist das etwas Neues und Ungewöhnliches für Berlin, das von großen Bevölkerungskreisen zur Kenntnis genommen wird und Neugier weckt. Zudem setzten wir beim Marketing und Vertrieb zunehmend auf digitale Wege und erreichen damit auch viele jüngere Menschen. Die haben oft auch ganz spezifische Interessen und würden niemals ein Konzert-Abonnement abschließen. Tatsächlich stagnieren die Abonnentenzahlen und entwickeln sich teilweise sogar nach unten, gleichwohl steigen die Besucherzahlen. Der hohe Verkauf von Einzeltickets zeigt, dass die Menschen deutlich flexibler geworden sind.
Ist das ein vorübergehendes Phänomen?
Rose: Ich glaube, dass sich dieses Konsumentenverhalten nicht mehr ändern wird, weil wir medial in der Lage sind, diese kurzfristigen Kaufentscheidungen herbeizuführen, und es nicht mehr zwingend eine Verknappung des Angebotes gibt – beziehungsweise eine solche auch billigend in Kauf genommen wird. Wer kurzfristig kein Ticket mehr bekommt, weil die Veranstaltung voll ist, hat eben Pech gehabt. Auch die große Konkurrenz der Freizeitangebote führt dazu, dass Kaufentscheidungen kurzfristig gefällt werden.