Frau Valentin, Sie traten im März die Nachfolge von Christian Höppner als Generalsekretärin des Deutschen Musikrats an. Was möchten Sie bewirken?
Antje Valentin: Ich will die musikalische Bildung stärken. Die Basis dafür ist, dass Menschen wissen und auch selbst erleben, dass das Musizieren und das Musikhören zu unserem Leben gehören. Musik bereitet nicht nur ein rein ästhetisches Vergnügen, sondern ist im Grunde ein Lebensmittel, das uns alle einzeln, aber auch die Gesellschaft stärkt.
Wie ist der Status quo bezogen auf die musikalische Bildung im Land?
Valentin: Im schulischen Bereich gibt es eine klare Negativentwicklung, was den Musikunterricht anbelangt. An den Gymnasien noch am wenigsten, aber in allen anderen Schulformen gibt es einen bedrohlichen Rückgang an Fachkräften für Musik. Es werden nicht mehr alle Kinder und Jugendliche mit Musikunterricht erreicht. Zum Beispiel müsste in den Grundschulen Musik ein ganz wichtiges Fach sein. Nicht nur hier kann Musik dazu beitragen, den Zusammenhalt an der Schule zu fördern und Kinder sprachlich, sozial und in ihrer Selbstwirksamkeit zu stärken. Es sollte als Mittel verstanden werden, das schulische Geschehen zugewandter und empathischer – einfach besser – zu gestalten.
Gib es seitens der Kinder einen Interessenverlust an Musik?
Valentin: Nein, aus meiner Sicht nicht. Das Problem ist der Rückgang von Fachpersonen, die für Musik begeistern und das Fach kindgerecht unterrichten können. An den Musikschulen haben wir ebenfalls einen Rückgang an Fachpersonal. Es ist eben ein Beruf, in dem man – zumindest an Musikschulen – bekanntermaßen nicht viel verdient. Wir müssen also auf der einen Seite die Musikpädagogen und Musikpädagoginnen besser bezahlen und auf der anderen Seite viel mehr in den Fokus rücken, was für eine Wirkung dieser Beruf auf die Gesellschaft hat, und zwar vom Kleinkind bis ins hohe Alter.
Wie sind diese Probleme überhaupt entstanden?
Valentin: Es wurde in einer Studie untersucht, welche Narrative bei Jugendlichen in Bezug auf den Musikunterricht und den Musiklehrerberuf dominieren. Da ist deutlich geworden, wie schlecht der Ruf wirklich ist. In der Tendenz wird Musikunterricht als unangenehm und nicht weiterführend angesehen. Das könnte zwei Ursachen haben: Zum einen gibt es Jugendliche, die schon viel Musik machen und die den Unterricht als nicht anspruchsvoll genug wahrnehmen. Zum anderen gibt es viele, die wenig mit Musik zu tun haben. Für diese wiederum ist der Unterricht manchmal zu fachspezifisch. Eine Mitte zu finden, ist schwer für Lehrkräfte. Das andere Narrativ ist, dass es wahnsinnig schwer sei, Musik zu studieren. Dass man ein unglaubliches Können auf einem Instrument mitbringen muss, um überhaupt die Aufnahmeprüfung zu schaffen. Natürlich muss man außerordentlich begabt und immens fleißig sein, um ein erfolgreicher Konzertpianist zu werden. Aber um Musikpädagoge oder Musikpädagogin zu werden, braucht es eine Mischung ganz anderer Fähigkeiten. Hierzu gehört selbstverständlich, ein Instrument zu spielen und singen zu können, aber auch Begeisterung dafür, Musik an andere zu vermitteln und gut mit Menschen umgehen zu können.
Ist es denn so, dass Musiklehrer an der Schule andere musikalische Anforderungen erfüllen müssen als an den Musikschulen?
Valentin: Das ist sehr unterschiedlich. Als angehende Instrumentallehrkraft sind die Anforderungen an das Können auf dem Instrument meistens etwas höher, als wenn man Lehrerinnen und Lehrern für die allgemeinbildende Schule werden will. Übrigens kann man das sowohl an Universitäten als auch an Musikhochschulen studieren. Weitaus mehr Lehrerinnen und Lehrer für die Schule werden an Universitäten ausgebildet. Hier sind die musikalischen Erwartungen häufig nicht so hoch wie an den Musikhochschulen. Für das Studium eines Lehrberufs muss man zudem bereits in den Eignungsprüfungen an Musikhochschulen und Universitäten zeigen, dass man mit Gruppen umgehen kann. Andererseits gibt es inzwischen auch schon erste Hochschulen, die völlig auf Eignungsprüfungen verzichten.
Wie lauten realistische Ansätze, dem Musiklehrermangel entgegen zu treten?
Valentin: Es muss deutlich gemacht werden, dass Musikunterricht gelingen kann. Da sind wir gerade mit einer großen Öffentlichkeitskampagne über die sozialen Medien dran. Junge Menschen müssen erfahren, wie toll Musikunterricht funktionieren kann und dass viele Lehrkräfte sehr glücklich mit diesem Beruf sind. Zudem lässt sich dieser Beruf auch mit dem eigenen Musizieren verbinden – man ist also abgesichert und kann zugleich künstlerisch arbeiten. Hier werden wir auf Instagram und TikTok mit einem Informationsangebot verstärkt auf Jugendliche zugehen. Zum Beispiel werden verschiedene Künstlerinnen und Künstler in kurzen Videostatements erläutern, wie wichtig prägende Musikpädagoginnen und Musikpädagogen für sie auf ihrem musikalischen Weg waren. Politisch ist es so, dass der Deutsche Musikrat bei dem „Runden Tisch Musikalische Bildung“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, teilnimmt und hier gemeinsam mit zahlreichen Spitzenverbänden aus der Musik- und Pädagogiklandschaft nach Lösungen sucht.
In den letzten Monaten war die Anstellungssituation der Lehrkräfte an Musikschulen diskutiert worden. Lehrer, die zuvor als Honorarkräfte arbeiteten, sollen nun festangestellt werden. Kosten steigen dadurch, Kritiker befürchten, dass das Unterrichtsangebot noch schmaler wird. Wie positioniert sich der Musikrat hier?
Valentin: Das Ökosystem Musikschule, wenn es wirklich eine kreative, mit Interaktion agierende Schule ist, funktioniert nur über eine Festanstellung der Lehrkräfte. Natürlich gibt es Musiklehrerinnen und Musiklehrer, die lieber als Freiberuflerinnen und Freiberufler arbeiten wollen. Hier brauchen wir eine Klarheit darüber, wie eine Honorartätigkeit rechtssicher funktionieren kann.
Der Musikrat hat jüngst eine Empfehlung zu Honoraruntergrenzen im Bereich der musikalischen Bildung veröffentlicht. Was bewirken diese Empfehlungen?
Valentin: Sie sollen als Orientierung und Leitfaden dienen. Es sind keine bindenden Empfehlungen, mit Ausnahme von Projekten, die durch die Kulturstaatsministerin gefördert werden. Bei den Beratungen ging es darum, was man konkret zum Leben braucht. Es ist ja nachvollziehbar, dass man als Selbstständiger ein bestimmtes Einkommen haben muss, um überleben zu können. In den von uns empfohlenen 54 Euro für 45 Minuten steckt mit drin, dass man sich selbst verwaltet, seine Einkommenssteuer bezahlt, den Unterricht vor- und nachbereitet, dass man Urlaubstage hat und den Verdienstausfall infolge einer Krankheit abfedern kann.
Seit 1964 wird „Jugend musiziert“ unter der Trägerschaft des Deutschen Musikrats ausgetragen. Wie sind die Entwicklungen in diesem Bereich, gerade heute im rapiden gesellschaftlichen Wandel?
Valentin: Bei „Jugend musiziert“ ist auf der regionalen Ebene ein leichter Rückgang der Teilnehmerzahlen zu beobachten. Die Landeswettbewerbe als nächste Stufen haben ungefähr gleichbleibende Teilnehmerzahlen. Der Bundeswettbewerb wird jedoch in den letzten Jahren tendenziell immer größer – mit Rekordzahlen von mehr als 1.400 Wertungen. Diese Größe des Bundeswettbewerbs beschäftigt uns im Musikrat sehr. Die Projektgesellschaft des Deutschen Musikrats in Bonn muss bei steigenden Kosten und gleichbleibenden Fördersummen den Wettbewerb angemessen durchführen, was nicht ganz einfach ist. Deshalb musste in den letzten Jahren als erste Einsparungsmaßnahme auf nachfolgende Angebote wie Kammermusikkurse verzichtet werden.
Liegt der ständige Zuwachs des Bundeswettbewerbs an der Öffnung des Wettbewerbs für Popularmusik?
Valentin: Nicht nur, es sind einfach verschiedene neue Kategorien in den letzten Jahren hinzugekommen, wie die Popmusikkategorien, Musical, Gesang und auch offene Kategorien wie Jumu Open, wo kreative Gruppenleistungen prämiert werden. Das sind alles erfreuliche Entwicklungen, die jedoch logistisch zur Herausforderung werden.
Sind Wettbewerbe denn überhaupt noch ein zeitgemäßes Mittel, um junge Menschen an Kultur heranzuführen oder im speziellen Fall von „Jugend musiziert“ für das Instrumentenspiel zu begeistern?
Valentin: In meinen Augen eigentlich nicht so sehr. Ich glaube, der Begegnungscharakter – zum Beispiel beim Zusammenspiel im Orchester – ist für Viele wesentlicher und inspirierender. Auf der anderen Seite muss man ganz klar sagen, dass wir eine Musiknation sind. Das bedeutet, dass wir neben der Breite auch Spitzenleistungen brauchen. Und dafür müssen wir als Deutscher Musikrat auch Maßnahmen bereitstellen, diese Spitze zu entwickeln und zu fördern. „Jugend musiziert“ ist hier ein hilfreiches Mittel, weil eben viele der erfolgreichen Teilnehmenden anschließend in ein Musikstudium gehen.
Wo möchten Sie den Musikrat in Zukunft positionieren?
Valentin: Wir müssen in die Breite der Gesellschaft wirken und sichtbar machen, wo die Musik in der Gesellschaft steckt, wo Musik hilft und wo ungenutztes Potenzial der Musik bezogen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt liegt.