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Blickwinkel: Jeffrey Döring

„Mich interessiert soziale Ungerechtigkeit enorm“

Regisseur Jeffrey Döring beschäftigt sich in seinem neuesten Projekt „Blaubarts Burg“ mit dem Thema Alterseinsamkeit und wurde dafür im Februar mit dem Gerard Mortier Next Generation Award ausgezeichnet.

vonIrem Çatı,

Ihr aktuelles Projekt „Blaubarts Burg“ trägt den Beinamen „Klänge der Einsamkeit“. Worum geht es darin genau?

Jeffrey Döring: Als ich das Konzept geschrieben habe, hat mich beschäftigt, wie Einsamkeit als ein soziales und nicht nur individuelles Problem verstanden werden kann. Die Fragen, die ich mir dabei gestellt habe, sind: Wie geraten Menschen in Einsamkeit? Warum scheint es so schwer, aus ihr herauszukommen? Wie kann man sie abmildern? Zusätzlich wollte ich den Fokus auf ältere Menschen lenken, weil es ihnen im Allgemeinen schwerer als jungen Menschen fällt, alleine Mittel und Wege zu finden, aus der Einsamkeit herauszukommen. Hier ist das Umfeld umso mehr gefragt, zu helfen, dass ihre Einsamkeit zu keinem großen Leidensdruck wird. Dafür habe ich Gespräche mit Seniorinnen und Senioren geführt, um ihre Perspektive zu diesem Thema zu hören. Diese Eindrücke möchte ich dann mit der Kammeroper „Herzog Blaubarts Burg“ von Béla Bartók verbinden, weil er darin die Einsamkeit eines Mannes beschreibt.

Wie wollen Sie die Interviews mit den Menschen und dem Pflegepersonal in die Oper einbauen?

Döring: Wir arbeiten bisher mit zwei Pianisten aus der Ukraine, die vierhändig spielen, und einem Streichtrio zusammen. Wir haben uns überlegt, die Dialoge zwischen Blaubart und Judith klassisch narrativ als eine Bühnenhandlung zu erzählen. Wenn Judith dann aber Blaubarts sieben Türen öffnet und Bartóks orchestrale Sprache mehr Raum bekommt, möchten wir die Stimmen einfließen lassen. Dafür haben wir einen Sounddesigner an unserer Seite, der die O-Töne zu einer Art rhythmischem Stimmengewirr verdichtet und dann fast jeder einzelnen Stimme einen Lautsprecher zuordnet. Die Idee dahinter ist, dass sich das Publikum dann frei im Raum bewegen und entscheiden kann, welchen Stimmen es sich annähern, beziehungsweise von welchen es sich entfernen möchte. Wenn sich die Türen dann schließen, kehren wir wieder zu Bartóks klassischer Opernhandlung zurück.

Wie reagieren die Menschen, wenn Sie sie mit dem Thema Alterseinsamkeit konfrontieren?

Döring: Ich habe mir schon Gedanken darüber gemacht, ob ich meine Gesprächspartner verletzte, wenn ich sie nach ihrer Einsamkeit frage. Sie überhaupt als „einsam“ zu beschreiben ist ja schon eine Aussage. Bisher habe ich aber tatsächlich vor allem sehr glückliche ältere Menschen getroffen, die zwar allein sind, aber eben nicht einsam. Da ist zum Beispiel eine ältere Dame, die mit achtzig Jahren nochmal die große Liebe gefunden hat. Eine andere ist zum Youtube-Star avanciert und testet Computerspiele. Das entspricht also gar nicht den Klischees und gibt mir in meiner Recherche ganz andere Bilder, als die, die ich vorher im Kopf hatte.

Widerspricht das nicht den Vorstellungen, die Sie für das Projekt hatten?

Döring: Total! Aber das Schöne an Bartóks Oper ist ja, dass sich mit den sieben Türen sehr viel öffnet. Zunächst Negatives wie eine Waffen- oder Folterkammer, danach Positives wie eine Schatzkammer und ein verborgener Garten. Und dieses Helle gibt es auch im Leben der älteren Menschen, das genauso erzählenswert ist und Vielfalt in das Thema bringt.

Für die Recherche haben Sie von Februar bis April eine Residenz am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Wie gestaltet sich Ihre Arbeit dort?

Döring: Im Februar habe ich mich vor allem um die Finanzakquise gekümmert und hatte viel mit den Fördermitteln zu tun. Jetzt bin ich mit den Gesprächen beschäftigt. Meine Interviewpartner finde ich in Seniorenheimen, den Geriatrien der DRK-Kliniken oder dem Verein „Silbernetz“, bei dem  ältere Menschen Ehrenamtliche anrufen knnen, wenn sie das Bedürfnis haben, sich mit jemandem zu unterhalten. Dank des Wissenschaftskollegs kann ich mich ganz auf diese Arbeit konzentrieren. Ich bekomme eine Wohnung gestellt und durch mein Stipendium auch finanzielle Unterstützung. Außerdem sind sie mir mit ihrer Expertise und ihrem Namen behilflich, wenn ich an einer Stelle oder Institution mal nicht weiterkomme.

Im Februar wurden Sie in Paris mit dem Gerard Mortier Next Generation Award ausgezeichnet. Wie hat sich das auf die Entwicklung Ihres Projekts ausgewirkt?

Döring: Da ist natürlich das Preisgeld von 30.000 Euro, das ich in „Blaubarts Burg“ stecken kann. Gleichzeitig bildet die Auszeichnung einen Grundstock für die weitere Finanzierung. Sie ist aber auch eine Art Gütesiegel und hat damit einen Wert – vor allem, wenn es eine Auszeichnung mit so viel Strahlkraft ist. Damit kann man die öffentliche Wahrnehmung viel leichter auf ein solches Projekt und ein Thema wie Alterseinsamkeit lenken.

Sie haben in der Vergangenheit auch schon eine Gehörlosenoper inszeniert. Was reizt Sie so sehr an sozialen Themen?

Döring: In meinem Verständnis gibt einem Theater die Möglichkeit, ein Schlaglicht auf Menschengruppen zu werfen, die im Alltag oft unsichtbar bleiben. Ich persönlich habe immer das Bedürfnis, mit den Mitteln der Kunst die Stimmen derer zu verstärken, die in der Gesellschaft leise geblieben sind. Das tue ich immer in meiner Rolle als Regisseur. Ich bin kein Aktivist und sehe mich auch nicht als solcher. Mich interessiert soziale Ungerechtigkeit enorm und ich möchte als Sprachrohr von Menschen fungieren, die aus der Mitte der Gesellschaft an den Rand gedrängt werden und somit aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit geraten, wie in diesem Fall in Seniorenheimen.

concerti-Tipps:

Döring: Blaubarts Burg
24.09. Werk2 Leipzig
27., 28. & 29.09. ZIMMT Leipzig

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