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Blickwinkel: Jochen Sandig – Intendant der Ludwigsburger Schlossfestspiele

„Ich möchte mit den Festspielen die Stadt und das Publikum umarmen“

Jochen Sandig hat die Ludwigsburger Schlossfestspiele in den fünf Jahren seiner Intendanz von Grund auf umgekrempelt. Nach dieser Spielzeit möchte der gebürtige Esslinger sich neuen Aufgaben zuwenden.

vonSören Ingwersen,

Herr Sandig, letztmalig finden in diesem Jahr die Ludwigsburger Schlossfestspiele unter Ihrer Intendanz statt. Was hat Sie in den letzten fünf Jahren bewegt und was haben Sie bewegt?

Jochen Sandig: Zunächst einmal war es ein harter Schlag für uns, dass die erste von mir verantwortete Festivalausgabe, die inhaltlich ein Meilenstein in der Festivalgeschichte werden und besonders „ausgefallen“ sein sollte, aufgrund von Corona dann auch tatsächlich fast komplett ausgefallen ist – leider nicht ganz im ursprünglichen Sinne. Durch die Pandemie wurden wir aber gezwungen, die Digitalisierungsprozesse stark voranzutreiben. Wir haben die „Digitale Bühne“ ins Leben gerufen, eine Social-Media-Strategie entwickelt und eine neue Website erstellt. Damit sprechen wir auch jüngere Menschen an.

Seit Ihrer Amtszeit stehen die Schlossfestspiele unter dem Leitfaden „Fest der Künste, Demokratie und Nachhaltigkeit“ …

Sandig: Damit habe ich dieses Traditionsfestival, das letztes Jahr sein neunzigjähriges Jubiläum gefeiert hat, in die zehnte Dekade überführt. Nachhaltig sind wir nicht nur in ökologischer Hinsicht, indem wir die CO2-Emissionen reduzieren. Wir haben auch die Gender Equality konsequent umgesetzt und hatten Oksana Lyniv, Barbara Hannigan und Alondra de la Parra schon bei uns zu Gast, als diese noch relativ unbekannt waren.

Wer dirigiert in diesem Jahr?

Sandig: In diesem Jahr haben wir Klaus Mäkelä mit dem Oslo Philharmonic zu Gast, mit dem er in Brahms’ Doppelkonzert auch als Cellist auftritt. Zur Eröffnung dirigiert Ryan McAdams das Festspielorchester.

Wie sieht es mit der Geschlechterparität bei den Komponierenden aus?

Sandig: Die ist aufgrund des musikalischen Erbes schwer zu erreichen. Da kann man nur mit Ur- und Erstaufführungen gegensteuern. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir in diesem Jahr die Kanadierin Cassandra Miller mit einer deutschen Erstaufführung erleben werden. Außerdem stellen wir Aaron Coplands berühmte „Fanfare for the Common Man“ einer „Fanfare for the Uncommon Woman No. 1“ von Joan Tower gegenüber.

Wie gehen Sie das Thema Musikvermittlung an?

Sandig: Das international besetzte Mahler Chamber Orchestra unter Dirigentin Anja Bihlmaier ist im Rahmen einer mehrtägigen Residenz mit einem großen Education-Programm zum Thema „Heimat“ zu Gast, an dem auch viele Schulen aus der Region beteiligt sind. Außerdem haben wir mit „Mini Mal Mut“ und „Generation Zukunft Musik“ Konzerte, für die Schülerinnen und Schüler eigene Formate gestalten, und bieten in diesem Jahr Tanz-Workshops zu Sasha Waltz’ Werk „In C“ an, wo Teilnehmende das choreografische modulare Prinzip zu Terry Rileys Musik lernen und erleben – ein Community-Projekt.

Was war und ist ihr zentrales Anliegen als Intendant?

Sandig: Ich möchte die nächste Generation für die Schlossfestspiele begeistern und Künstler hierherholen, die noch nie in der Region aufgetreten sind. Natürlich ist unser Budget begrenzt. Wir können uns nicht mit Salzburg oder Bayreuth und nicht einmal mit der Ruhrtriennale messen, die ein Budget von fast zwanzig Millionen Euro hat. Wir sind dagegen mit rund vier Millionen Euro unterwegs. In Zeiten, in denen die Kosten enorm steigen, bleibt am Ende immer weniger Geld für die Kunst übrig.

Welche Dinge würden Sie niemals dem Sparzwang opfern?

Sandig: Ich möchte mit diesen Festspielen die Stadt und das Publikum umarmen. Deshalb ist mir die „Frei Luft Musik“ so wichtig. Mitten in der Pandemie haben wir mit dieser sehr erfolgreichen Reihe Schlossfestspiele unter freiem Himmel auf dem Markplatz ins Leben gerufen, die in diesem Jahr erstmals mit zwölf Terminen stattfindet. Wenn dort bis zu sechshundert Menschen komplett barrierefrei ganz unterschiedlichen Musikstilen lauschen, wird das Festival wirklich sehr demokratisch. Klassik soll begeistern und kein Distinktionsmerkmal für eine kleine Gruppe von Menschen sein.

Seit 1972 haben die Ludwigsburger Festspiele ein eigenes Orchester. Nach dieser Saison wird es aus Kostengründen aufgelöst. Sollte man sich Sorgen machen?

Sandig: Das Festspielorchester ist ein Projektorchester und besteht zu einem großen Teil aus Musikern des Staatsorchesters Stuttgart und des SWR Symphonieorchesters. Niemand wird aus einer festen Anstellung entlassen. Für die freien Musikerinnen und Musiker verschärft es jedoch deren prekäre Situation. Mein Nachfolger wird jetzt wohl schauen, welche Orchester aus der Region man ins Festival einbinden kann.

Gibt es Ziele, die Sie in den letzten fünf Jahren nicht erreicht haben?

Sandig: Ich hätte gerne mehr Tanz angeboten, aber dazu waren wir finanziell nicht in der Lage. Immerhin: Drei Mal haben wir Chorografien von Pina Bausch mit dem Tanztheater Wuppertal gezeigt. Auch die Uraufführung von Sasha Waltz’ Choreografie „In C“, die jetzt um die Welt geht, konnte man bei uns sehen sowie ihre legendäre choreografische Oper „Dido and Aeneas“, und dieses Jahr bringen wir von ihr „Beethoven 7“ sowie eine Neuerzählung des „Dschungelbuchs“ mit der Akram Khan Company.

Wenn man bedenkt, was Sie alles bei den Schlossfestspielen verändert und angestoßen haben, und wenn man spürt, wie sehr Sie für die Sache brennen, drängt sich die Frage auf, warum Sie den Posten in Ludwigsburg aufgeben.

Sandig: Ich bin in der Nachbarstadt Esslingen geboren, aufgewachsen und habe dort meine musische Schulbildung erhalten. Mit dieser Intendanz wollte ich meiner Heimat etwas zurückgeben und in fünf Jahren das Festival neu aufstellen. Das hat unfassbar viel Kraft gekostet, auch weil am Anfang die Pandemie dazwischenkam und die Schlossfestspiele strukturell unterfinanziert sind, so dass ich sehr viele Drittmittel akquirieren musste, zum Glück auch Bundesmittel in Höhe von drei Millionen Euro bekam. Nach drei sehr erfolgreichen Jahren und wieder aufgebauten finanziellen Rücklagen übergebe ich den Stab guten Gewissens an eine neue Person.

Um danach was zu tun?

Sandig: Ich bin ja eher ein Gründertyp und habe mit dem Kunsthaus Tacheles, den Sophiensaelen, dem Radialsystem V und dem Tanzensemble Sasha Waltz & Guests vier bedeutende Kulturinstitutionen in Berlin auf den Weg gebracht. In diese Richtung möchte ich weitergehen, und dafür brauche ich Kapazitäten. Von daher kam es für mich nicht in Frage, meine Arbeit in Ludwigsburg routinemäßig weiterzuführen.

Vor der Wahl Ihres Nachfolgers hat die Belegschaft des Ludwigburger Forums öffentlich für eine Neuausschreibung der Intendanz demonstriert. Was ist da schiefgelaufen?

Sandig: Nachdem ich angekündigt hatte, dass ich meinen Vertrag nicht verlängern möchte, kam die überregional besetzte Zukunftskommission zu dem Schluss, dass eine herausragende Persönlichkeit mit überregionaler Strahlkraft die künstlerische Leitung übernehmen soll. Von 23 Bewerbungen erreichten offenbar nur zwei die letzte Runde. Der Ludwigsburger Gemeinderat schaltete sich dann ein und hat sich sehr für Lucas Reuter, den Leiter des Forums am Schlosspark Ludwigsburg, eingesetzt, woraufhin der letzte verbliebene Mitbewerber seine Kandidatur zurückzog und am Ende nur ein Kandidat übrigblieb. Die Empörung unseres Teams und auch von Personen aus dem weiteren Umfeld entzündete sich nicht an der Person meines Nachfolgers, sondern an der Tatsache, dass es eigentlich keine demokratische Wahlmöglichkeit mehr gab und die Richtungsentscheidung nicht mehr den Empfehlungen der fachlich versierten Zukunftskommission entsprach. Überraschenderweise wurde das in den Medien kaum zur Kenntnis genommen.

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