Frau Eisenreich, „Bach – ein Weihnachtswunder“ hat einen geschichtlichen Hintergrund, ist aber kein wirklicher Historienfilm. Für welches Genre haben Sie denn die Filmmusik geschaffen?
Martina Eisenreich: Primär für einen Familienfilm, aber schon mit der Besonderheit, dass Johann Sebastian Bach und seine große Familie als historische Figuren im Mittelpunkt stehen.
Mit wem haben Sie im Vorfeld zusammengearbeitet?
Eisenreich: Vor allem mit Florian Baxmeyer, dem Regisseur. Ursprünglich gab es den Plan, den Film komplett mit Bach-Musiken auszustatten, aber Florian Baxmeyer hat sich dann doch dazu entschieden, auch mit dramaturgischer, neu komponierter Musik zu arbeiten, und so wurde ich an Bord geholt.
Wie sind Sie methodisch vorgegangen? War die Tatsache, dass die Hauptfigur im Film einer der größten Komponisten überhaupt ist, ein Problem für Sie?
Eisenreich: Die Musik von Bach, die ich sehr liebe, steht im Film ganz für sich. Das war im Drehbuch schon so angelegt, im Film wird ja ständig geprobt und musiziert. Das alles wird vom Zuschauer auch ganz bewusst wahrgenommen. Ich als Schöpferin der Filmmusik war für die unterbewusste Ebene zuständig: Die Filmmusik muss zeitgleich in Herz und Seele der Figuren schlüpfen. Und dass ich genau das mit der Gefühlswelt eines Johann Sebastian Bach tun durfte, empfand ich als unglaublich schöne Aufgabe.
Sie durften sich sogar in die ganze Bachfamilie hineinversetzen.
Eisenreich: Und es ist auch ein Weihnachtsmärchen. Die Zuschauer sollen mitfühlen und in die Welt der Familie Bach, die ja eine ganz große emotionale Fallhöhe bietet, hineingezogen werden.
Was für eine Fallhöhe?
Eisenreich: Für mich stellt ja der Gottfried die Hauptfigur dar. An ihm ist die ganze Geschichte aufgezogen, obwohl oder weil er kein Wort redet im Film. Zunächst ist er eine eher tragische Figur. Aber am Ende gibt es dann diese Schlüsselszene, in der Gottfried „Ich steh an deiner Krippen hier“ singt und damit den Wendepunkt der Geschichte einläutet. In der Filmmusik habe ich dieses Stück immer wieder motivisch eingeflochten. Auch Anna Magdalena Bach ist eine entscheidende Figur im Film. Sie war zu ihrer Zeit eine großartige Künstlerin, die sicher auch mehr gefeiert wurde als ihr Ehemann selbst. Auf der anderen Seite aber hat sie sieben Kinder verloren, was im Film viel Raum einnimmt. Ich selbst habe für diese Szenen Akkordstrukturen und Motive aus der Matthäus-Passion verwendet. Wenn man bewusst zuhört, wird man im Film die Akkordfortschreitungen aus „Erbarme dich“ heraushören, auch wenn die Originalkomposition nicht vorkommt.
Sie jubeln den Zuschauern also unterschwellig Bach-Melodien unter?
Eisenreich: Es wird mit diesen Ebenen schon gespielt, ja. Ich habe zum Beispiel auch die Arie „Schafe können sicher weiden“ oder ein Pattern aus Bachs Cello-Suiten eingeflochten. Trotzdem hat die Filmmusik ihre eigene Klangwelt.
Das klingt fast schon subversiv.
Eisenreich: Das soll auch so sein. Ich sehe das an mir selbst: Wenn ich im Film merke, dass mich jemand in eine bestimmte Richtung hin manipulieren möchte, dann werde ich aus der Filmwelt herausgerissen. Im besten Fall aber werde ich als Zuschauer hineingesogen und habe das Gefühl, Teil dieser Welt zu sein. Man sagt ja auch, dass man einen Film ansieht und nicht anhört. Alles, was über das Ohr in den Zuschauer eindringt, ist ganz stark mit dem Unterbewusstsein verknüpft.
Wie sind Sie zur Filmmusik gekommen?
Eisenreich: Als Kleinkind war mein erster musikalischer Kontakt die authentische oberbayerische Volksmusik. Ab der Grundschule habe ich mich dann verstärkt mit der Klassik beschäftigt. Später wurde ich dann Jungstudentin für Komposition. Das war in den neunziger Jahren, als E- und U-Musik noch strikt getrennt waren. In dieser Zeit hatte ich ein besonderes Erlebnis: Ich war mit Freunden in einem Konzert mit Penderecki, bei dem zur Pause geschätzt das halbe Publikum nach Hause ging. Einige Wochen später habe ich dann im Kino „Die Matrix“ gesehen mit der Musik von Don Davis – die derjenigen von Penderecki gar nicht mal unähnlich war. Der Unterschied zum Konzert: Viele junge Menschen haben damals Davis’ Musik regelrecht gefeiert. Da habe ich gemerkt, was solche Musik in Menschen auslösen kann – wenn man sie in den Kontext mit Bewegtbild und einer entsprechenden Story setzt.
Wie komponieren Sie?
Eisenreich: Ich fange mit Bleistift und Papier an. Ich finde das wichtig, denn dann muss ich entscheiden, welche Ideen es wert sind, aufgeschrieben zu werden. Säße ich am Klavier, wäre das für mich immer nur eine Improvisation, das Abrufen der immergleichen motivischen „Vokabeln“. Der kompositorische Kern muss aber dem eigenen Gedankenkosmos entspringen. Irgendwann bin ich dann mit meinen Ideen gefestigt genug, um mich ans Klavier zu setzen und später auch mit einem Produktionstool zu arbeiten. Das ist dann schon die nächste Ebene, dann arbeitet man mit synthetischen Klängen oder einem Orchester-Mockup.
Werden Sie das noch in zehn Jahren so machen, wenn die Technik nochmal einige Quantensprünge weiter ist?
Eisenreich: Die ganzen KI-Tools werden sicher eine immer größere Rolle spielen. Aber das ist ein Prozess, der sich schon vor zwanzig Jahren bemerkbar gemacht hat. Man kann immer mehr nach der Methode trial and error ausprobieren. Heute fragt man ein KI-Programm, wie es klingen würde, wenn man diese und jene Einflüsse miteinander kombiniert. Das ändert aber nichts an der Tatsache beziehungsweise an meinem Anspruch, dass ich die eigentliche Vision, die Idee, mit der alles anfängt, aus mir selbst heraus entwickeln muss.