Kaum eine Sängerin kann auf ein solch breites und verschiedenartiges Repertoire blicken wie die schwedische Mezzosopranistin Anne Sofie von Otter: Sie singt Opern vom Barock bis zum 20. Jahrhundert, gibt Liederabende, auch in der Sakralmusik ist sie vielgefragt, sie unternimmt Ausflüge ins folkloristische Sujet, und im Bereich des Jazz und Pop singt sie, als wäre ihre Stimme allein dafür geschaffen. Entsprechend vielfältig gestaltete sich daher auch die Playlist für das Blind gehört-Interview.
Händel: Haec est Regina virginum HW 235
Anne Sofie von Otter, Musica Antiqua Köln, Reinhard Goebel (Leitung)
Archiv Produktion 1994
(singt mit) Das war eine Aufnahme aus der Adolf-Friedrich-Kirche in Stockholm, eine sehr schöne alte Kirche, wo ich mit dem wunderbaren Chordirigenten Anders Öhrwall viel Musik gemacht habe. Ach, Moment! Ich dachte gerade, es wäre die „Schwedische Messe“ von Johan Helmich Roman, aber da wird ja gar nicht Schwedisch, sondern Latein gesungen. Und es ist Reinhard Goebel! Auch er hat eine große Bedeutung für mich. Ich habe seine Aufnahmen sehr viel gehört, und irgendwann habe ich meinem Produzenten bei der Deutschen Grammophon gesagt, dass ich sehr gerne einmal mit Reinhard Goebel zusammenarbeiten möchte. So kam dann diese Aufnahme zustande – und es war wunderbar! Wir waren sozusagen verliebt. Immerhin habe ich mich vorhin selbst erkannt. Reinhard hat mir diese Arie damals per Fax geschickt auf diesem Papier, das sich immer ein bisschen wie Backofenpapier an fühlte. Ich habe diese Noten immer noch, die inzwischen total verblasst sind. Aber ich behalte sie auch weiterhin: Sie kamen von Reinhard.
Costello: Il sogno
London Symphony Orchestra, Michael Tilson Thomas (Leitung)
Deutsche Grammophon 2004
Wahrscheinlich ist es Strauss, aber ich weiß nicht, was es sein könnte. – Von einem lebenden Komponisten? Dann hat er wohl viel Richard Strauss gehört. Ist es Brad Mehldau? – Nein? Dann muss es Elvis Costello sein, und dann hören wir natürlich seine Ballettmusik zu „Midsummernight’s Dream“. Diese Ballettmusik ist sehr stark der klassischen Musik verpflichtet. Bei der Orchestrierung der Musik hatte er Hilfe. Und die Person, die ihm geholfen hat, mochte offensichtlich Strauss und Korngold. Elvis ist eine sehr begabte Person, intellektuell und kreativ. Was er aus der englischen Sprache herausholen kann, ist unglaublich! Er ist ein sehr spannender Mensch, der nicht nur in seiner Musik viel zu erzählen hat, sondern auch dann, wenn man mit ihm einfach nur plaudert. Eine lustige und schöne Bekanntschaft. Als wir unsere CD „For the Stars“ gemacht haben, war Elvis ja ganz in der klassischen Musik versunken. Er wusste genau, was er mit meiner Stimme machen musste. Wir waren uns völlig einig, dass wir da keine Streichorchester oder Chöre einbauen wollten. Alles sollte ganz natürlich sein! Die Musiker und ich haben unsere Parts auch nicht nacheinander, sondern zusammen eingespielt. Für eine klassische Sängerin ist es wichtig, dass man bei Jazz oder Popmusik nicht die großen Muskelgruppen der Stimme belastet. Stattdessen muss man einfach mit der natürlichen Stimme singen, die sehr nah an der Sprechstimme liegt und auch eine andere Registertiefe hat. Viele klassische Sänger haben Schwierigkeiten, diese Technik wegzulassen, weil alles auf einen großen Klang eingestellt ist. Auch wenn man dann leise singt, bleibt der ganze Opernklang dabei, weil die Muskeln ihre Arbeit wie sonst auch machen. Es ist wie beim Sport: Man kann als Boxer auch nicht einfach so mir nichts, dir nichts Ballett tanzen, nur weil man bei beiden Sportarten beweglich sein muss.
Berlioz: D’amour lardante flamme aus „La Damnation de faust“
Maria Callas, Georges Prêtre (Leitung)
Warner 1962
Maria Callas! Nun ja, wie soll ich mich über die Callas äußern? Sie war eine Künstlerin ohnegleichen. Aber ihre Stimme raubt mir jetzt nicht so den Atem wie zum Beispiel die von Pavarotti, die immer etwas Zerbrechliches, Natürliches hatte. Ich weiß es nicht, sowas kann man schlecht erklären. Callas kann ich mit etwas Abstand sehr bewundern, aber ich hätte nie so sein können wie sie. Sie war ein ganz anderer Typ als ich, hat auf ihre Art und Weise wirklich alles gegeben – auf der Bühne und in ihrer Vorbereitung, vielleicht auch als Mensch. Ich selbst könnte nicht so auf Konfrontation mit einem Intendanten oder Regisseur gehen, wie sie es getan hat. Ich bin da eher das „good girl“ und möchte das durchführen, was eine Regisseurin oder ein Regisseur von mir möchte. Selbst dann, wenn ich ihn nicht besonders schätze. Sie wollen ja etwas erschaffen – oder versuchen es zumindest. Und wenn man dann auf Streik geht, kommt am Ende gar nichts heraus. Vielleicht bin ich da ein bisschen feige. Oder diplomatisch …
Händel: Destructive War aus „Belshazzar“
Marie Nicole Lemieux, Il Complesso Barocco, Alan Curtis (Leitung)
Naïve 2011
„Destructive War“ aus Händels „Belshazzar“. Das war eines meiner Vorsingstücke für die Londoner Guildhall School. Ich habe neulich herumgesucht, ob jemand diese Arie aufgenommen hat. Diese Einspielung hier könnte mit Marie Nicole Lemieux sein. Ich habe sie bislang zu wenig gehört, um ein Urteil abzugeben. Aber ich finde nicht, dass dieses Repertoire ihr stärkstes ist. Ich glaube, sie singt auch viel Romantisches, viel Rossini und so. Vielleicht ist der Barock nicht unbedingt das, mit dem man sie hören möchte. Ich mag meine Barockstimmen schon spezialisiert. Aber diese Arie liegt auch sehr tief.
Wagner: Einsam wachend aus „Tristan und Isolde“
Christa Ludwig, Karl Böhm (Leitung)
Deutsche Grammophon 1966
Ich habe diese Rolle nicht sehr oft gesungen, aber die Erfahrung in dieser Welt von Wagner und Tristan und Isol de und Brangäne – hypnotisch, oioioi! Ich bin so dankbar, dass ich das machen durfte. Das erste Mal war vor etwas mehr als zehn Jahren, da habe ich die Brangäne gesungen. Das war eine neue Welt für mich, und ich wusste nicht, wie ich singen sollte. Damals habe ich sehr viel und sehr konzentriert Christa Ludwig gehört und mich dabei immer gefragt, wie sie das singt. Ich habe auch versucht zu kopieren, ohne mich dafür zu schämen. Wir haben natürlich nicht dieselbe Stimmen und unterscheiden uns vom Aussehen her. Aber sie ist so eine intelligente, fantastische Sängerin! Sie hatte ja auch ein riesiges Repertoire, von hoch bis tief. Und sie macht jeden Sommer in Salzburg eine Masterclass. Da singt sie manchmal auch selbst, und es klingt immer noch fantastisch, obwohl sie schon über neunzig ist. Natürlich singt sie da nur ein paar Takte, aber die Stimme ist unverändert.
Moraeus: Koppången
Anne Sofie von Otter, Kalle Moraeus (Gitarre)
Deutsche Grammophon 1998
Moraeus, „Koppången“. Das ist ein schwedisches Naturschutzgebiet, wo Herr Moraeus wohnt. Dort geht er im Winter Skilaufen und im Sommer zum Jagen. Ich war auch mal da. Die Deutsche Grammophon, für die ich das Lied eingesungen habe, wollte es mit „Eine Tasse mit heißem Getränk im Winter“ übersetzen, weil „kopp“ Tasse und „ånga“ Dampf heißt. Die dachten, das wäre irgendein Weihnachtstee. Übrigens habe ich im letzten Jahr zum allerersten Mal ganz traditionell daheim auch Weihnachtslieder gesungen. Bislang wollte ich nie, da ich auch keines der Lieder auswendig kann, nicht einmal „Stille Nacht“. Aber diesmal, als die Familie bei mir auf dem Lande zum Weihnachtslunch kam, haben wir das endlich mal gemacht und hatten großen Spaß!
Offenbach: Condusez-moi vers celui qui j’adore aus „Robinson Crusoe“
Joan Sutherland, Richard Bonynge (Leitung)
Decca 1970
Man könnte meinen, es wäre Gruberová, aber sie ist es nicht. Das Stück könnte aus „Hoffmanns Erzählungen“ stammen, aber das tut es sicher nicht. Dafür kenne ich die Oper zu gut. – „Robinson Crusoé“?! Was es alles für Opern gibt … Aber immerhin lag ich mit Jacques Offenbach richtig. – Die Figur steckt gerade im Kochtopf der Kannibalen? Dann wundert es mich nicht, dass die Sängerin nicht sehr glücklich klingt (lacht). – Keine Sängerin von heute? Dann kann es nur Joan Sutherland sein. Oh, so eine charmante, lustige Frau! Ich habe sie nicht gekannt, aber alle sagen das von ihr. In London habe ich sie einmal live gehört. Das war in ihrer späten Zeit, aber sie war noch immer unglaublich gut. Ich würde aber diese Arie nicht singen, denn ich hatte noch nie allzu große Lust auf Showstücke. Trotzdem: Diese absurde Art von Humor bei diesem Stück hier – das muss mit viel Energie und Intelligenz gesungen werden wie bei diesem Hörbeispiel. Toll!
Korngold: Ich ging zu ihm aus „Die Kathrin“
Reneé Fleming, Orchester des Mariinsky-Theaters, Valery Gergiev (Leitung)
Decca 2006
Renée Fleming. Singt sie hier eine Strauss-Oper? – Nein? – Ach so, Korngold, „Die Kathrin“! Aber es klingt wie Strauss, nur ein bisschen süßlicher. Renée erkennt man sofort an der Phrasierung. Sie will nicht nur singen, sondern auch schauspielern. Ich kann mir genau vorstellen, wie sie gerade aussieht, während sie das singt. Wie sie auf der Bühne herumwandert mit melancholischem Blick … Privat ist sie ja ganz unglamourös, eine sehr intelligente Frau, die sich für viele Sachen auch außerhalb des Gesangs interessiert. Wenn ich unterrichte, spreche ich oft über Renée Fleming, vor allem bei spätromantischer Musik, wenn ich möchte, dass meine Schüler diese gefühlvolle Art in ihre Stimme einbauen. Dann sage ich ihnen immer: „Denke an Renée!“