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Blind gehört Frieder Bernius

„Da bin ich ganz anderer Meinung“

Dirigent Frieder Bernius hört und kommentiert Aufnahmen von Kollegen, ohne dass er weiß, wer spielt.

vonFrank Armbruster,

Frieder Bernius zählt zu den profiliertesten deutschen Dirigenten. Bekannt wurde der 74-Jährige als Pionier der historischen Aufführungspraxis, doch reicht sein Repertoire mittlerweile von Alter Musik bis zu zeitgenössischen Werken. Sowohl in der Orchester- als auch in der Chorarbeit gilt Bernius als Perfektionist mit sehr hohen Qualitätsansprüchen. Kein Wunder also, dass der von ihm gegründete und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Kammerchor Stuttgart als einer der besten seiner Art gilt. Wollen wir also mal hören, wie Bernius andere bewertet. Wir starten orchestral in vertrautem Gelände.

J. S. Bach: Brandenburgisches Konzert Nr. 1 – 1. Ouvertüre

Café Zimmermann
Alpha 2010

Eines der Brandenburgischen Konzerte. Eine schon etwas ältere Aufnahme. Mit historischen Instrumenten, nicht sehr poliert, man merkt, dass es vielleicht aufnahmetechnisch nicht auf der Höhe unserer Zeit ist. Ich finde das Tempo etwas gemütlich. Harnoncourt meinte, dass eigentlich alle Tempi in der Barockmusik von den Tanzsätzen her zu betrachten seien, und da spielt es eine große Rolle, wie die Betonungen der einzelnen Taktteile sind. Und das kommt mir hier ein bisschen zu gleichmäßig vor. Wer ist das? – Café Zimmermann, ah. Die waren mal in Stuttgart bei unserem Festival, die waren gut!

Zelenka: Miserere c-Moll

Balthasar-Neumann-Chor & -Ensemble, Thomas Hengelbrock (Leitung)
DHM 2008

Das Miserere c-Moll. Man erkennt Zelenka an diesem ostinaten Rhythmus, den typischen Vorhalten, auch harmonisch geht das ziemlich zur Sache, ziemlich dissonant. Ich bin ja ein großer Zelenka-Fan. Ende der Neunziger hat mein Kollege Philippe Herreweghe gesagt, mit solch drittrangigen Komponisten würde er sich nicht abgeben. Da bin ich ganz anderer Meinung. Ich höre hier ein angemessenes Wort-Ton-Verhältnis, die Verbindung zwischen Chor und Orchester könnte man noch intensivieren. Es gibt in den Lehrbüchern dieser Zeit die Forderung, dass Instrumentalisten wie Sänger spielen sollen und umgekehrt. Das passt hier schon gut, das Tempo finde ich richtig. Aber wenn der Chor einsetzt, ist es eine andere Klangwelt, das sollte besser zusammengehen. Ist es der Dresdner Kammerchor? – Nein? Dann ist es eine belgische Aufnahme? – Auch nicht? Eine deutsche Aufnahme, sagen Sie? Fällt mir jetzt nicht ein, wer ist das? Hengelbrock, ah ja … Aber das ist bestimmt eine ältere Aufnahme, ich vermute zwanzig Jahre alt. 2009? Wäre ich jetzt nicht draufgekommen. Ja, das wäre jetzt interessant, wenn sich die Interpreten auch einmischen könnten. 

Pärt: Te Deum

Estonian Philharmonic Chamber Choir, Tallinn Chamber Orchestra, Tönu Kaljuste (Leitung)
ECM 1993

(Nach wenigen Sekunden) Ein Te Deum, in D … Arvo Pärt?! – Ja, okay … Ich kenne das Stück nicht, aber das ist der Philharmonische Chor aus Tallinn. Den habe ich schon dirigiert, ein sehr gutes Ensemble. Ich muss zugeben, dass ich gewisse Vorbehalte gegen Arvo Pärt habe, weil er es sich doch zu leicht macht, die Musik zu gefällig ist. Allerdings gibt es einige hervorragende Stücke von ihm, die ich auch schon gemacht habe, „Nunc dimittis“ zum Beispiel. Die Esten haben eine große Chortradition, und ihre Unabhängigkeit ist mit der Vokalmusik verbunden. Wenn ich das jetzt höre, denke ich natürlich daran, wie es ihnen gerade geht. Direkt hinter ihrer Grenze beginnt der Machtbereich Russlands.

Beethoven: Sinfonie Nr. 3 Es-Dur „Eroica“ – 2. Adagio

Le Concerts des Nations, Jordi Savall (Leitung)
Alia Vox 2019

Der 2. Satz der „Eroica“ … Barockoboe, ja, das ist die Sollbruchstelle des historischen Spiels. Es gibt sehr wenige, die das wirklich hervorragend können, bei denen man nicht merkt, dass sie historische Oboe spielen. Reinhard Goebel hat mal gesagt, eine historische Oboe klingt ein bisschen wie ’ne Ente (lacht). Man sollte halt den Klang des Instruments nicht zu sehr als eigene Farbe wahrnehmen. Das gilt genauso für modernes Instrumentarium, das darf auch nicht ablenken. Dieser Klang ist mir hier nicht klagend genug für einen Trauermarsch. Es gehört schon zur Phrasierungskunst historischer Aufführungspraxis, dass man Auftakte nicht zu sehr betont, aber diese Auftakte hier müssten schwerer sein, das kommt mir zu flüchtig vor. (hört weiter) Hervorragend die Pauke. Das ist genau, wie man es sich vorstellt, sehr trocken, das kann eine moderne Pauke nicht. Wer ist das? – Jordi Savall, ja, ich habe gehört, dass er die Sinfonien aufgenommen hat. Wäre mal eine interessante Sache, zehn Aufnahmen dieser Sinfonie zu vergleichen.

Verdi: Messa da Requiem – Agnus Dei

Monteverdi Choir, ORR, J. E. Gardiner (Leitung)
Philips 1994

Verdi, ja … (unterbricht) Ich habe mal seine „Quattro pezzi sacri“ gemacht, das ist schon fantastische Musik. Das Requiem habe ich nie dirigiert, aber das hat mich auch nie gereizt. Da ist ein großer Apparat nötig, und bei so großen Besetzungen ist es in Deutschland üblich, dass sich Chöre zusammenschließen, also etwa das SWR Vokalensemble mit dem Rundfunkchor des BR. Aber das kann dann kein gemeinsamer Klang sein. Da wird eine Probe zusammen gemacht, der Dirigent hört sich das an, findet es gut und nimmt dann während der Arbeit mit dem Orchester keine Rücksicht auf das, was da zusammen klingen soll. Auf diese Weise kann man solche Werke nicht so hinbekommen, wie ich mir das vorstelle. Jetzt hören wir noch ein bisschen weiter. (nach einer Weile) Ja, das ist betörend und erfüllt, sowohl komponiert als auch interpretiert. Die Instrumente mit den Sängern, das passt hier gut zusammen. Vielleicht Abbado? – Nein? Wer ist das? – Ah, Gardiner! Ja, eine sehr gute Aufnahme. Das ist kein zusammengewürfelter Chor, da ist ein Dirigent, der sich auch die Instrumentalisten und Solisten aussucht, die er sich vorstellt. Das ist auch meine Idee.

Strawinsky: Requiem Canticles

SWR Vokalensemble, SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, Michael Gielen (Leitung)
Hänssler 2007

Klingt wie Karl Amadeus Hartmann, ist es aber nicht. (hört weiter bis nach Beginn des 2. Satzes) Das ist jetzt ganz anders als in der Introduktion … Ist das Rihm? – Gubaidulina? – Strawinsky, wirklich? Also, das ist sehr polystilistisch, das hätte ich nie gedacht. – Michael Gielen ist der Dirigent? Ah ja … Er hat mir mal gesagt, es sei ihm schon bewusst, dass er nicht in der ersten Reihe berühmter Orchesterdirigenten steht, ich habe aber nicht verstanden, ob er das jetzt bedauert oder stolz darauf ist. Aber damals war Glamour auch nicht so wichtig. Es gab noch mehr Menschen, die gemerkt haben: Da ist einer, der bereichert unser Archiv mit solchen Aufnahmen. Diese Aufnahme ist wirklich gut, selbst wenn manches vielleicht nicht mit der letzten Raffinesse gearbeitet wurde. Aber die Fähigkeit, diese verschiedenen Stile Igor Strawinskys kongenial nachzuzeichnen, das ist hörbar. Ich bewundere, was der Gielen gemacht hat, gerade für den Südwesten.

Mozart: Requiem – Introitus

Collegium Vocale Gent, Orchestre de Champs Élysseés, Philippe Herreweghe (Leitung)
hm 1997

(nach wenigen Sekunden) Also, meine eigenen Aufnahmen spielen Sie nicht, oder (lacht)? Es ist dieselbe Tonhöhe, der gleiche Klarinettenklang wie bei meiner Einspielung. Aber nein, den Anfang finde ich hier zu schnell, diese nachschlagenden Achtel der Violinen dürfen nicht wie Offbeats kommen. Aber das ist schwer. Dieser Übergang nach F-Dur, „et lux perpetua“, da muss das Licht aufgehen! Der Chor ist groß, passt nicht ganz zur Feinheit des Orchesters. (hört weiter) Bei diesem Sopransolo höre ich einen Temposchnitt, das sollte meiner Meinung nach dasselbe Tempo haben. Grundsätzlich finde ich das Orchester besser als den Chor. – Wer der Dirigent ist? Wir haben ihn schon erwähnt, sagen Sie? Dann ist es Philippe Herreweghe! (lacht) Gerade wenn man sehr gute Sänger hat, kommt es darauf an, sie so zusammenzuführen, dass sie homogener singen, als es hier der Fall ist.

CD-Tipp

Album Cover für Haydn: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers

Haydn: Die sieben letzten Worte unseres Erlösers

Kammerchor & Hofkapelle Stuttgart, Frieder Bernius (Leitung) Carus

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