Als Helmut Deutsch zum ersten Mal die „Winterreise“ mit Hermann Prey spielen durfte, übte er tagelang mit Kopfhörern zu einer Aufnahme des berühmten Baritons mit Leonard Hokanson, um die Interpretation exakt zu klonen. Nach dem Konzert hob Prey dann das Glas auf ihn und lobte: „Ich habe mich heute sehr wohl gefühlt, obwohl alles völlig anders war, als ich es gewohnt bin.“ Heutzutage fehlt Deutsch die Zeit zum Hören von Aufnahmen, wie er zu Gesprächsbeginn schmunzelnd gesteht – ja, bisweilen erkenne er nicht einmal Dinge, die er schon gespielt oder aufgenommen habe.
Strauss: Allerseelen
Jessye Norman (Sopran), Geoffrey Parsons (Klavier)
1986, Philips
Ich kann nur hoffen, dass das eine relativ betagte Aufnahme ist! Es ist eines der Lieder, bei denen ich eine absolut feste Vorstellung davon habe, dass es so nicht sein soll. Die Idee ist ja, dass ein sicher nicht erst vor einer Woche, sondern vor zehn oder zwanzig Jahren Verstorbener im Geiste wieder da ist. Das Ganze ist positiv, kein Gejammer, sondern eine Vision voller Liebe. So langsam und verzögernd wie hier, habe ich das noch nie gehört: Diese Larmoyanz und der Pathos sind für mich unerträglich. Wobei ich respektiere, was die Sängerin an Farben hat, das ist eine wirklich schöne Stimme. Das ist Jessye Norman? Okay, das leuchtet mir ein – Gott sei Dank habe ich sie nie persönlich kennen gelernt! Eine unglaublich eitle Frau, sie hat Geoffrey Parsons sicher nach ihrem Regiment so spielen lassen. Parsons war für mich ein großer Gentleman, ein eleganter und vornehmer Mensch, der aber nicht unbedingt ein irres Temperament gehabt hat. Warum wartet er zum Beispiel hier? Das ist, wie wenn in jedem Halbtakt ein Ritardando stehen würde. Alles schön, weich und warm, aber so jammernd hat er das sicher nicht freiwillig gespielt! Ich habe Jessye Norman zwar nicht erkannt, aber sie auch nie gemocht. Ich habe großen Respekt vor ihrem Stimmmaterial und Können, aber als Zuhörer schreckliche Sachen mit ihr erlebt. Wegen ihrer Allüren hätte ich sie manchmal ohrfeigen können!
Beethoven: An die ferne Geliebte
Christian Gerhaher (Bariton), Gerold Huber (Klavier)
2012 Sony
Ich habe so Angst, mich zu blamieren! Schon Dieskau, oder? Nein? Gerhaher? Bei der Sprachbehandlung gibt es eine Ähnlichkeit zu Fischer-Dieskau. Das ist jetzt ein bisschen schwer für mich, Gerhaher war ja ein Schüler von mir. Für mich hat er einen leichten Überhang an Intellektualität, mit dem ich nie ganz glücklich war. Man muss den Mann unglaublich respektieren, aber ich habe immer das Gefühl, es ist alles ein ganz klein wenig zu kontrolliert: Es kommt nie etwas Überschäumendes heraus. Wie gesagt, es ist alles gut, aber nicht so, dass man sagt, wow, da bin ich jetzt weg … Natürlich ist das ein relativ gezähmtes, klassisches Stück, wo man sich nicht so sehr verausgaben kann, aber zum Beispiel hier, das ist gewissermaßen schon perfekt, man kann nicht sagen, das wäre schlecht oder falsch, aber ich spüre das einfach nicht, und ich glaube, er auch nicht. Es ist ein seltsames Gefühl beim Christian Gerhaher, der als der größte deutsche Liedsänger der Gegenwart gepriesen wird, was ich nicht ganz unterschreiben kann, weil ich finde, ihm fehlt ein bisschen Herzenswärme. Vielleicht hat er sie aber auch und kann oder will sie nicht zeigen. Ich hoffe nur sehr, er liest das hier nicht.
Schumann: Dichterliebe
Jan Vogler (Cello), Hélène Grimaud (Klavier)
2013 Sony
Sehr langsam! Achso! Ich habe solche Sachen eigentlich ganz gerne und habe das auch im Auftrag von Jan Vogler öfter mal gemacht. Er hat einmal das Cellokonzert von Dvořák aufgenommen und hatte gelesen, dass Dvořák beim Schreiben des Finales erfuhr, dass seine Schwägerin im Sterben liegt. Wie das offensichtlich häufiger vorkommt, wenn man beispielsweise an Mozart denkt, wollte Dvořák eigentlich wohl die Schwägerin haben: Ich habe keine Ahnung, wie weit das ging, auf jeden Fall muss ihm diese Nachricht das Herz gebrochen haben. Anscheinend hatten die beiden eine Art „Code-Lied“ gehabt: „Laßt mich allein in meinen Träumen geh‘n“. Man kann aus dem Autographen erkennen, dass er dann an der Stelle dieses Lied eingearbeitet hat. Jan hat dann Angelika Kirchschlager gebeten, das Lied mit mir aufzunehmen und zusätzlich die Zigeunermelodien, die wir auf Cello und Stimme aufgeteilt haben. Was ich faszinierend fand, dass Jan – obwohl er den Text auf dem Pult liegen hatte – nicht im Traum daran gedacht hat, sich an den Duktus des Textes anzupassen: Das macht er hier auch nicht. Ich finde es eigentlich faszinierend, wenn man so etwas mit einem guten Instrumentalisten hört, der andere Sachen machen kann, als ein Sänger, weil der halt vielleicht einen Bogenwechsel braucht, aber nie atmen muss. Man glaubt, die Stücke so gut zu kennen, aber dann hört man sie so doch nochmal ganz neu. Aber die „Dichterliebe“ finde ich ein bisschen tollkühn, unter den 250 Schumann-Liedern gibt es sicher einige, die sich etwas besser für so etwas eignen.
Schubert: Winterreise – Die Krähe
Dietrich Henschel (Bariton), Irwin Gage (Klavier)
2000, Teldec
Das ist für mich ein Lied, bei dem ich immer davon träume, bei einem der vielen Male, wo ich das schon gespielt habe, sagen zu können: Damit war ich jetzt glücklich. Ich halte es für mich zumindest ausgeschlossen, diese Melodie so zu spielen, als wäre es kein Klavier. Das kann der Kollege hier irgendwie auch nicht. Dass das ein berühmter Sänger ist, erstaunt mich etwas. Ich habe schon mit ihm gearbeitet? Um Gottes Willen: Ich habe ja befürchtet, dass so etwas kommt! Es ist – abgesehen von der Stimmfarbe – zum Beispiel nicht der Peter Schreier, der hat das viel schneller gesungen. Hier sind im Klavier die linke und die rechte Hand nicht zusammen, also das bin ich nicht, ich würde mir die Kugel geben, wenn ich so etwas nicht zusammen bringe. Ich bin völlig ahnungslos, wer das sein könnte … Dietrich Henschel? Ich bin erschüttert! Auch ein Schüler von mir: Ich habe mit ihm ziemlich viel gemacht, auch einige CDs. Der Henschel ist schon ein außergewöhnlicher Sänger, aber das hier finde ich ehrlich gesagt nicht richtig. Auch wenn es DAS Tempo nicht gibt, aber je langsamer „Die Krähe“ gespielt wird, umso schwerer ist es diese Endlosmelodie hinzubekommen. Ich stelle mir da immer einen Klarinettisten vor, bei dem man niemals einen Taktstrich spürt. Das ist halt auf so einem blöden Instrument wie dem Klavier unglaublich schwer und vielleicht auch nicht hundertprozentig, aber besser lösbar als hier.
Korngold: Aus: Die tote Stadt
Jonas Kaufmann (Tenor), Julia Kleiter (Sopran)
2014, Sony
Aber die habe ich nicht persönlich kennen gelernt? Hätte ich aber gern! Ich finde beide richtig gut, weil sie das so klassisch singen. Das kann ja entsetzlich kitschig klingen, aber hier ist das so pur – irre gut! Ich habe zwar die CD, aber mit wem singt der Jonas das denn hier? Er ist halt doch ein wahnsinnig guter Sänger, der Herr Kaufmann! Julia Kleitner? Da bin ich überrascht, denn ich habe sie nur einmal mit etwas ganz anderem gehört habe, nämlich in der „Matthäus-Passion“. Da war ich nicht so begeistert, aber das hier ist sehr überzeugend! Kaufmann war auch vier Jahre ein Student von mir. Das war natürlich ein Glücksfall, als er vor zehn Jahren plötzlich so berühmt wurde: Es ist ja auch ein Medien-Phänomen, dass man einen Enddreißiger „entdecken“ kann als neuen, jungen deutschen Tenor, der zufällig schon zehn Jahre auf sehr hohem Niveau an großen Häusern gesungen hat. Natürlich sah er gut aus und hat phantastisch gesungen. Wir haben schon vor siebzehn, achtzehn Jahren gemeinsame Liederabende gemacht. Ich bin ganz beglückt, dass ich – bis auf ganz kleine Ausnahmen wie beispielsweise Barenboim – der einzige Pianist bin, mit dem er arbeitet. Wir sind wirklich sehr eng befreundet und kennen uns schon seit unfassbaren 24 Jahren. Ich sage ihm alle Jahre wieder: Jonas, Du musst Dich jetzt einmal umschauen, ich werde nicht ewig spielen, ich werde schließlich im Dezember 70 Jahre alt! Er sagt dann immer, das sei Quatsch – gut, mir soll es recht sein. Die Nörgler sagen über ihn, die Stimme sei kein Tenor, aber den Bariton möchte ich sehen, der solche Höhen hat! Die Dunkelheit ist für mich fast ein Adelsabzeichen. Das Erstaunliche bei Jonas ist: Je schwerere Sachen er singt, desto leichter fallen ihm Dinge wie die „Petrarca-Sonette“ von Liszt. Die unglaublichen Farben, die Jonas hat, faszinieren mich, das ist einfach so geworden mit der Zeit. Jonas ist ein bewundernswerter Künstler und Mensch. Ich kann nur hoffen, dass das noch ein bisschen weiter geht. Aber von der Julia Kleiter bin ich hier schwerst beeindruckt!
Brahms: Sonate Nr. 2 A-Dur op. 100/1
Gerhart Hetzel (Violine), Helmut Deutsch (Klavier)
1997, Mis
Das ist ein wenig schwer für mich. Mir gefällt´s, aber wenn ich jetzt daneben haue, ist es natürlich sehr peinlich. Bin das ich mit dem Gerhart Hetzel? Das ist sehr lustig, so etwas nach einem so langen Abstand wieder zu hören. Wahrscheinlich könnte ich es heute nicht mehr so spielen, aber ich habe wirklich gehorcht, ob mir etwas missfällt, muss aber ehrlich sagen: nein! Die Geschichte der Aufnahme ist allerdings schrecklich: Die japanische Plattenfirma hatte an Hetzel einen Narren gefressen. Ich war der Kammermusik damals gewissermaßen schon ein wenig entwachsen – er wollte aber mit mir einfach fast alles aufnehmen. Ich war fassungslos, warum ausgerechnet mit mir? „Weil ich Sie mag.“ Ich habe mir das angeschaut und ihm gesagt, bei den Beethoven-Sonaten, da gibt es Stellen, auch wenn ich die drei oder vier Monate übe, ich bekomme das einfach nicht hin. Aber er akzeptierte es einfach nicht, so sehr ich mich auch sträubte. Also nahmen wir Brahms, um uns gemeinsam an Beethoven heranzutasten. Und dann hat er nicht einmal den ersten Schnitt mehr gehört: Es war ein unglaublicher Schock für mich, als ich den Anruf erhielt, der Hetzel sei gestorben. Die Verantwortung zu übernehmen und zu entscheiden, welcher Take genommen werden soll, das hat mich überfordert. Ich habe dann den Rainer Honeck, einen der Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, angerufen und gesagt: „Bitte nimm‘ diesen Kelch von mir, Du kannst als Geiger besser sagen, was er wollte.“ Hetzel hat schon eine sehr eigene Sprache gehabt, ein unglaublich intensiver Musiker mit großem Arbeitswillen. Humor war aber nicht seine Stärke. Wenn ich gesagt habe, man könnte diesen oder jenen Ton etwas länger aushalten, war seine Antwort immer: „Gefallen würde mir das schon, aber darf man das?“ Herrlich! Für mich war die Geschichte irgendwie symbolhaft. Ich bin nicht abergläubisch, aber als er gestorben ist, dachte ich: „Ich werde nie wieder einen so großen Geiger treffen, der das alles mit mir spielen möchte, das war‘s jetzt mit mir und der Kammermusik.“