Als Ian Bostridge zum ersten Mal nach Berlin kam, war die Mauer noch nicht lange gefallen. Seine ersten Eindrücke von der Stadt waren eng mit Musik verbunden. Für das Fernsehen arbeitete er 1990 an einem Dokumentarfilm über Dietrich Fischer-Dieskau, den er in seinem Haus im Westend besuchte. „Er war mein großes Vorbild, ohne ihn wäre ich wohl kaum Sänger geworden“, sagt er über den berühmten Bariton. „Sein Tod macht mich sehr traurig.“ Nur wenige Jahre später stand der der 1964 in Großbritannien geborene Tenor selbst in Berlin auf der Bühne. Auf Brittens War Requiem mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester folgten mehrere Auftritte mit den Berliner Philharmonikern. „Mozarts Requiem mit Daniel Barenboim, eine wundervolle Johannes-Passion von Bach mit Simon Rattle und Thomas Quasthoff, außerdem viel Britten“, erinnert er sich. Den „Blind gehört“-Termin nimmt Ian Bostridge wörtlich und setzt humorvoll seine Brille ab.
Monteverdi: Duett Pur ti miro
Nuria Rial (Sopran)
Philippe Jaroussky (Countertenor)
Teatro d’Amore
L’Arpeggiata
Christina Pluhar (Leitung)
2009. Virgin Classics
Das muss Monteverdi sein… (hält die Augen halb geschlossen und dirigiert mit).Christina Pluhar? Ich finde es eine interessante Idee, Monteverdi mit jazz-ähnlichen Improvisationen zu verbinden. Manchmal liegt darin allerdings auch eine gewisse Gefahr. Bei dem Duett Pur ti miro ist meiner Meinung nach vor allem Strenge notwendig, eine größere Vorhersehbarkeit. Ansonsten können hier und da Brüche entstehen. Insgesamt gefällt mir die Aufnahme aber sehr gut. Ich habe L’Arpeggiata zum ersten Mal vor zwei oder drei Jahren gehört. Selbst habe ich Monteverdi mit der Dirigentin Emmanuelle Haïm aufgeführt, die einen ähnlichen Ansatz verfolgt. Bei Monteverdi kann man immer viel hinzuerfinden. Als wir Orfeo aufnahmen, haben wir in der Begleitung beispielsweise interessante Percussion-Elemente hinzugefügt. Ich denke, dass Alte Musik nicht mehr ausschließlich etwas für Spezialisten ist. Es kommt weniger darauf an, irgendwelche Dogmen zu befolgen, als eine schlüssige eigene Herangehensweise zu finden.
Beethoven: Fidelio. Gott! Welch Dunkel hier…In des Lebens Frühlingstagen
Jonas Kaufmann (Tenor)
Lucerne Festival Orchestra
Claudio Abbado (Leitung)
2011. Decca
(Während der Ouvertüre) Das ist Fidelio – aber ich habe keine Ahnung, wer der Dirigent sein könnte. Harnoncourt? (Hört sich nach dem Quartett Mir ist so wunderbaraufmerksam die Tenor-Arie an) Ich habe eigentlich instinktiv mit Jonas Kaufmann gerechnet, bin jetzt aber nicht ganz sicher. Eigentlich müsste seine Stimme dunkler klingen. Die Aufnahme finde ich zwar großartig, sie kommt aber nicht an die von Ferenc Fricsay aus den fünfziger Jahren heran. Fricsay ist für mich der faszinierendste Beethoven-Dirigent überhaupt. Hier ist mir das Dirigat nicht stringent und kontrastreich genug. Bei dem Quartett spüre ich ähnlich wie bei Monteverdis Pur ti miro, dass der Grundpuls zu oft unterbrochen wird.
Dowland: My heart and tongue were twins
aus: Sirène
Anna Prohaska (Sopran)
Eric Schneider (Klavier)
2010. Deutsche Grammophon
Eine deutsche Sängerin? (Hört sich weitere Lieder an, wie Der Fischer von Franz Schubert und La fleur qui va sur l’eau von Gabriel Fauré). Ich erkenne deutsche Sänger, wenn sie in ihrer eigenen Sprache und auf Englisch singen. Das Lied auf Deutsch war das klarste. Eine tolle Künstlerin. Ihre Stimme ist wundervoll variantenreich und passt sich den unterschiedlichen Stücken sehr gut an. Auch der Pianist ist interessant.
Bach: Matthäus-Passion. O Schmerz
Eberhard Büchner (Tenor)
Staatskapelle Dresden, Rundfunkchor Leipzig
Peter Schreier (Leitung)
1984. Philips
Ich erinnere mich jetzt, dass ich diese Aufnahme sogar selbst zu Hause habe. Ganz zu Anfang war ich verwirrt, weil ich moderne Streichinstrumente erkannte, aber die Blockflöten nicht heraushörte. Ich würde mir hier mehr Dringlichkeit wünschen. Barockmusik empfinde ich als sehr intensiv und nach außen gerichtet. Bei dem Stück mit dem Tenor gefällt mir der Dialog zwischen menschlicher Stimme und Blockflöten. Heutzutage sind wir mehr durch die historische Aufführungspraxis geprägt, selbst wenn wir Instrumente aus unserer Zeit benutzen. Ich habe die Matthäus-Passion schon während meiner Ausbildung einstudiert und später mit Philippe Herreweghe und dem Collegium Vocale Gent auf CD eingespielt. Mit Frans Brüggen habe ich außerdem eine große Tournee unternommen und einige Arien aufgenommen. Er nahm sich beim Dirigieren sehr zurück. Die Solopartien der Sänger traten besonders hervor, das kam meinen eigenen Vorstellungen sehr nahe. Ich denke, es wird immer ganz unterschiedliche Möglichkeiten geben, dieses Werk aufzuführen. Am meisten hat mich eine Aufnahme mit Otto Klemperer aus den frühen sechziger Jahren beeinflusst. Das erste Chorstück ist mir bei anderen Dirigenten immer zu schnell.
Rossini: Stabat Mater. Cujus animam gementem
Lawrence Brownlee (Tenor)
Orchestra e Coro dell’Accademia di Santa Cecilia
Antonio Pappano (Leitung)
2010. EMI Classics
(Nach ein paar Takten der Einleitung) Das ist Toni (Pappano)! (Summt leise mit) Auf den Tenor komme ich aber nicht… Eine großartige Aufnahme. Pappano hat italienisches Temperament und ist eigentlich bei allem, was er macht, sehr gut. Ich habe von Rossini die Petite Messe Solennelle gesungen. Generell ist er als Komponist aber nicht so ganz mein Fall. Sein Stabat Mater ist aber fantastisch, vor allem der Anfang. Die Tenor-Arie wirkt auf mich dagegen fast ein bisschen lächerlich. Irgendetwas stört mich an der Melodie, sie erscheint mir dem Inhalt nicht besonders zu entsprechen.
Schubert: Winterreise
Dietrich Fischer-Dieskau (Bariton)
Alfred Brendel (Klavier)
1985. Philips
(Nach den ersten Takten) Ganz klar – die Winterreise mit Dietrich Fischer-Dieskau. Der späte Fischer-Dieskau. Und wer ist der Pianist? Ich würde sagen, Brendel oder Barenboim. Mit diesem Liederzyklus beschäftige ich mich als Sänger schon sehr lange. Ich verspüre dabei eine viel größere Unruhe und auch mehr Ironie, als bei dieser Aufnahme deutlich wird. Fischer-Dieskau nimmt das alles vielleicht ein bisschen zu ernst. Irrlicht verstehe ich zum Beispiel eher als einen Scherz, den man mit sich selbst treibt. Die Winterreise hat für mich etwas sehr Expressives. Schubert hat selbst von „schneidenden Tönen“ und „schauerlichen Liedern“ gesprochen. Die Gedichte sind einfach wundervoll. Wilhelm Müller war sehr von englischer Lyrik beeinflusst, er las viel Byron. Am Ende steht nicht notwendigerweise der Tod. Es sollte alles offen bleiben. Der Leiermann verkörpert für mich am ehesten den „Doppelgänger“, einen Gefährten für uns Musiker. Man kann mit diesem Zyklus sein ganzes Leben verbringen. Ich weiß nicht, warum manche Leute meinen, man könne ihn erst im reiferen Alter aufführen. Schubert war ja auch erst 30, als er ihn komponierte. Zum ersten Mal habe ich die Winterreise als Student in Oxford gesungen, im Januar 1985. Kurz vorher hatte ich mich von meiner damaligen Freundin getrennt und wollte sie beeindrucken. Mein Plan ging leider nicht ganz auf (lacht). Sie war zwar tatsächlich bei der Aufführung, aber wir kamen nicht wieder zusammen.