Seine Begeisterung für das Lied zeigt Julian Prégardien nicht nur auf der Bühne, sondern auch als Organisator. Gerade hat er ein Festival ins Leben gerufen, welches Hamburg im Oktober mit unterschiedlichen Konzertformaten zur „Liedstadt“ werden lässt. Dass er sich mit Repertoire und Interpreten bestens auskennt, beweist er auch beim Treffen zum „Blind gehört“.
Schumann: Dichterliebe – „Hör ich das Liedchen klingen“
Christian Gerhaher, Gerold Huber (Klavier)
RCA 2004
Das ist Christian Gerhaher. Er hat diese unfassbar fein ziselierte Diktion, bei der der Widerstand jedes Konsonanten deutlich wird. Ich erkenne ihn auch an der Klarheit der Stimme, am hellen und schlanken Singen, an seiner Mischung aus Rezitation und Gesang. Schumann ist ja sein erklärter Lieblingskomponist, und ich finde, man hört diese Liebe und Hingabe zur Musik mit jeder Silbe. Davor habe ich großen Respekt. Das Klaviervorspiel von „Hör ich das Liedchen klingen“ ist sehr regelmäßig, fast schon mechanisch gespielt, mir ist das ein wenig zu objektiv. Denn so eine Melodie hat eine gewisse Schwerkraft, die ich gerne in einer anderen Art von Phrasierungsbogen hören würde. Gerold Huber und Christian sind seit Studienzeiten ein Team und gelten auch als das Lied-Duo, eine Schicksalsgemeinschaft (lacht). Viele Solisten haben verschiedene Klavierbegleiter, Christian aber hat, soweit ich weiß, nur zwei Mal mit anderen Pianisten gearbeitet.
Mahler: Lieder eines fahrenden Gesellen
Anne Sofie von Otter, NDR-Sinfonieorchester, John Eliot Gardiner (Ltg)
DG 1996
Das ist Anne Sofie von Otter. Ich wusste nicht, dass sie das aufgenommen hat. Wundervoll! Dirigiert das Claudio Abbado? Wenn das NDR-Sinfonieorchester spielt, ist es vermutlich John Eliot Gardiner. Ich habe mit Anne Sofie an der Oper Frankfurt zusammengearbeitet, das wird mir immer in Erinnerung bleiben. Sie ist eine tolle Person und unfassbar intensive Darstellerin. Wenn man sie auf der Bühne erlebt, hat sie eine Art Energiefeld um sich herum, eine Aura. Sie hat mich damals ermutigt, Haute-contre-Repertoire zu singen, also hohe Tenor-Partien im französischen Barock, was ich dann auch getan habe. Sie inspiriert mich bis heute mit der Breite ihres Repertoires, wie sie sich einer Kategorisierung widersetzt. Man kann sie nicht auf das Fach Opernsängerin reduzieren, sie hat auch eine sehr breite Auffassung vom Liedbegriff. Und egal ob sie zum Beispiel Abba-Songs singt oder Klassik, sie stellt ihre Stimme immer wunderbar in den Dienst der Musik.
Bach: Kantate BWV 131 – „Meine Seele wartet“
Benedikt Kristjánsson (Tenor), Ensemble Continuum
Coviello Classics 2023
Das ist „Meine Seele wartet“, aus der Kantate „Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir“, im Bach-Werke-Verzeichnis müsste das die 131 sein. Das war eine der ersten Bach-Kantaten, die ich gesungen habe. Und die Arie ist wirklich schwer, sehr hohe Lage, sehr lange Phrasen. Den Interpreten erkenne ich nicht. Eine typische Alte-Musik-Bach-Stimme, schlank, hell, ohne baritonal-lyrisches Fundament. Die Herangehensweise ist sehr instrumental, die Emotion wird der Musik überlassen, da fehlt mir ein bisschen die direkte Emotion des Ausführenden, so etwas wie Angst spüre ich hier nicht. Und das Tempo ist mir ein bisschen zu langsam, weil ich von der Arie ein anderes Bild habe: Für mich ist es weniger ein meditatives Warten, sondern ein von Angst erfülltes, sehnendes, ungeduldiges Warten, weshalb ich diese Arie schneller gesungen habe. Ich glaube eigentlich nicht, dass es der isländische Tenor Benedikt Kristjánsson ist. – Doch? Ich hätte nicht gedacht, dass seine deutsche Aussprache so perfekt ist.
Schubert: Vier Canzonen D 688
Lawrence Brownlee, Martin Katz (Klavier)
EMI 2005
So wie es anfängt, könnte es ein unbekanntes Schubert-Lied sein. Oh, Italienisch! Da denkt jeder sofort an Bellini, aber nein, es ist Schubert. Es gibt sehr viel Ähnlichkeiten zwischen Bellini und ihm. Schubert hat ein paar Texte des italienischen Dichters Pietro Metastasio vertont, hat auch Lieder zur Übersetzung freigegeben, zum Beispiel „Willkommen und Abschied“, Cecilia Bartoli hat es auf Italienisch aufgenommen. Das hier ist wunderbar gesungen, mit belcantistischem italienischem Ton. Das Timbre ist nicht europäisch, ich vermute, der Sänger kommt aus Südamerika, wo es ja eine große Tradition von hohen Belcanto-Stimmen gibt. Aber nach Juan Diego Flórez klingt es nicht. – Ach, das ist Lawrence Brownlee? Ja, jetzt erkenne ich ihn tatsächlich.
Schubert/Tarkmann: Die Schöne Müllerin – „Morgengruß“ & „Trockne Blumen“
Klaus Florian Vogt, Ensemble Acht
CPO 2019
Aha, eine Bearbeitung der „Schönen Müllerin“ von Franz Schubert. Da tippe ich gleich mal auf Klaus Florian Vogt, wobei ich mir die CD bislang noch nicht angehört habe. Ich habe die Müllerin selbst schon mal in einem Arrangement gesungen und finde, dass es immer legitim ist, Musik zu bearbeiten und anzupassen, das wurde auch schon zu Lebzeiten der Komponisten gemacht. Diese Bearbeitung gefällt mir, das ist mit viel Fantasie komponiert, hier die Klarinette ist eine neue Melodielinie, da noch eine Gegenstimme. Ach, und „Trockne Blumen“ hat hier sogar ein komplett neues Vorspiel. Das hat etwas von einem improvisierten Intermezzo, so wie es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Clara Schumann praktiziert wurde, wenn sie Lieder gespielt hat. Klaus Florian singt hier die ersten Takte aber sehr gleich, da höre ich wenig Dynamik und Differenzierung, das holt mich nicht ab. Insgesamt passt aber die Helligkeit seiner Stimme sehr gut für diesen Zyklus.
Mozart: Die Zauberflöte – „Dies Bildnis ist bezaubernd schön“
Plácido Domingo, Münchener Rundfunk Orchester, Eugene Kohn (Leitung)
EMI 1991
Ist das Rolando Villazón? Ein Verdi-Sänger jedenfalls, ich tippe auf Plácido Domingo. Mir persönlich ist das etwas zu laut und gleichförmig. Ich beginne die Arie ganz gerne im Piano und bin sehr froh, wenn mich Dirigenten wie Franz Welser-Möst in so einer Rolle auch leise singen lassen. Hohe Töne müssen nicht immer laut sein, sondern sie können sich auch jugendlich, unsicher anhören. Und gerade Tamino als adoleszenter junger Mann ist ja alles andere als ein Held. Es gibt heldische Momente, wo er wahnsinnig aus sich heraus geht, aber die „Bildnis“-Arie ist ein intimer Moment von Verzauberung und Verliebtsein, eigentlich viel mehr ein Lied als eine Arie. So wie Plácido Domingo es in dieser Einspielung singt, ist mir das zu opernhaft.
Bruckner: Locus iste
Collegium Vocale Gent, Philippe Herreweghe (Leitung)
Harmonia Mundi 1990
Herzlichen Glückwunsch zum 200. Geburtstag, Anton Bruckner! Wie oft ich als Knabe diese Motette wohl gesungen habe? Unser Kantor damals bei den Limburger Domsingknaben, Klaus Knubben, hatte eine große Bruckner-Vorliebe. Das hier ist ein sehr guter Knabenchor, aber welcher? Nein, da sind ja doch Frauenstimmen. Wunderbar, wenig Vibrato, klarer Klang, toll phrasiert, nicht zu dick, nicht in der Tradition der Sing-Vereine. Es scheint mir ein Ensemble zu sein, das Alte-Musik-geschult ist. Und es ist kein englischer Chor. Die Knabenchor-Zeit war für mich musikalisch sehr prägend, als neunjähriger Sopran habe ich dort das erste Mal solistisch gesungen, in Mendelssohns „Elias“. Den Drang zu musizieren hatte ich schon als kleines Kind, singen war mir immer wahnsinnig wichtig. Und aus dieser Kirchentradition kommend habe ich bis zum Studium fast nur geistliche Musik gesungen.
Dowland: Wilt Thou Unkind Thus leave Me
Sting, Edin Karamazov (Laute)
Deutsche Grammophon 2006
Das klingt wie etwas von John Dowland. Und das ist natürlich Sting mit Edin Karamazov. Für Leute, die so etwas ganz klassisch hören möchten, in historischer Aufführungspraxis, für die ist das nichts. Seine Stimme ist rau, ihm fehlen die typisch klassischen Obertöne, man würde ihn ohne Verstärkung kaum hören. Aber ich finde die Aufnahme legendär. Er ist eben ganz anders geschult, er hat diese charakteristische Stimme, sozusagen sein vocal print. Und ich liebe einfach die Neugier dieses Künstlers auf diese Musik. Mich holt das ab.