Am meisten Angst hatte Kevin John Edusei davor, seine eigenen Aufnahmen zu hören. Der Chefdirigent der Münchner Symphoniker war unser Gesprächspartner für das „Blind gehört live“ in den Reisenberger Galerien München. Als Dirigent und Tonmeister qualifizierte er sich gleich mehrfach für kenntnisreiche Kommentare zu den Aufnahmen seiner Kollegen. Mit viel Respekt und immer mehr Vergnügen hörte er sich durch die geheime Playlist. Abgespielt wurde diese von einer hochwertigen Lautsprecheranlage von Avantgarde Acoustic.
Puccini: Tosca – E lucevan le stelle“
José Carreras (Tenor), London Studio Orchestra, Marcello Viotti
Teldec 1993
An das Werk ist meine Erinnerung noch frisch, denn ich habe „Tosca“ gerade an der Staatsoper Hannover dirigiert. Die Aufnahme ist bestimmt aus einer Arien-Kollektion, denn sie wurde musikalisch aus dem Opernkontext genommen. Man erkennt das am Schluss des Stückes. Ich höre es aber auch an der Aufnahmetechnik. Diese Balance zwischen Sänger und Orchester bekommt man so überhaupt nicht hin. Live nicht, aber im Aufnahme-Studio auch nicht. Damit hat uns der Produzent sicher keinen Gefallen getan. Es gibt so wenig Interaktion zwischen Orchester und Sänger, fast so, als ob sie sich nie begegnet wären – auch nicht im Studio. Der Tenor könnte einer der großen Stars der 1990er sein. (Publikum rätselt mit: Plácido Domingo und Luciano Pavarotti scheiden aus). José Carreras? Ah, eine späte Aufnahme.
Schubert: Sinfonie Nr. 5 B-Dur D 485 – 4. Allegro
Tonhalle Orchester Zürich, David Zinman
Sony Music 2012
Das ist Franz Schubert und seine Sinfonie B-Dur. Schubert war ja selbst Bratscher und man hört, dass seine kammermusikalische Kompetenz auf das feine Geschehen der Sinfonie abgefärbt hat – im positiven Sinne. Auf David Zinman wäre ich nie gekommen. Ich kenne David und seine Aufnahmen sehr gut und schätze ihn sehr, besonders seinen Zyklus der Beethoven– und Schumann-Sinfonien. Das Tempo ist jedenfalls genau richtig für Franz Schubert. In dem Bereich habe ich mich auch bei meiner eigenen Aufnahme der B-Dur-Sinfonie bewegt.
Eötvös: Speaking Drums – 1. Tanzlied
Martin Grubinger, Orchestre de Radio France, Peter Eötvös
Alpha 2016
Dieses Stück habe ich auch schon dirigiert, mit dem wunderbaren Simone Rubino. Der Schlagzeug-Solist wird hier mit seinem Instrumentarium zum Sprecher oder Erzähler. Dadaistische Texte des ungarischen Dichters Sándor Weöres sind die Grundlage dafür. Diese Verse sind vollkommener Nonsens, man hört Kunstlaute wie „Ku-do-ra“ und „Pa-ni-ga-i“. Der Schlagzeuger bringt mit seinen Aktionen den Instrumenten das Sprechen bei. Das ist der Ausgangspunkt für dieses Stück, und nach und nach infiziert er sein komplettes Instrumentarium, das über die ganze Bühne verteilt ist, und das Orchester mit diesen Versen und Sprach-Rhythmen. Ein spannendes Stück, das erst vor wenigen Jahren für den österreichischen Schlagzeuger Martin Grubinger entstanden ist. Da es erst eine Aufnahme gibt, ist klar, dass wir ihn hier mit Peter Eötvös am Pult hören. Das klassische Schlagzeug hat mich lange begleitet, es ist eigentlich mein Hauptinstrument. Jetzt bin ich in der glücklichen Lage, ab und zu einen Schlagzeuger als Dirigent begleiten zu dürfen.
Elgar: Cellokonzert e-Moll – 1. Adagio
Pieter Wispelwey, Netherlands Radio Orchestra, Jac van Steen
Channel Classics 1999
Ich habe Edward Elgars Konzert für Violoncello e-Moll lange nicht mehr dirigiert. Ich kann spontan nicht sagen, welcher Solist oder welche Solistin es ist. Ich möchte gerne die Anfangssequenz noch mal von einer anderen Perspektive aus hören. Darf ich? (Setzt sich ins Publikum). Ein bisschen lauter noch. Wenn man dirigiert und den Solisten direkt neben sich hat, hört man ihn oder sie viel direkter und plastischer! Bei Bläsern kann man Klappengeräusche hören, bei Streichern das Harz auf dem Bogen und noch viel mehr Obertöne. Mir fallen zwei Cellisten ein, denen ich zutrauen würde, das Werk so zu spielen. Einmal der Niederländer Pieter Wispelwey und den russischen Cellisten Ivan Monighetti. Wenn es Pieter Wispelwey ist, dann steht mein Mentor Jac van Steen am Pult. Wispelwey ist bekanntlich ein sehr guter Kammermusiker, und man hört, wie fein und zurückhaltend er das musiziert – eben nicht mit der vollen Pranke, sondern ganz ohne Draufgängertum. Mir gefällt dieses kultivierte Spiel gerade bei diesem Stück sehr, sehr gut.
Wagner: Ouvertüre zu „Tannhäuser“
Gewandhausorchester Leipzig, Andris Nelsons
Deutsche Grammophon 2017
Ist das eine Aufnahme neueren Datums? Interessant. Wir hören Richard Wagner, die Ouvertüre zu „Tannhäuser“. Ich überlege, ob ich schon mal so ein Erstes Horn gehört habe. Ich nehme sogar Vibrato wahr. Das ist ganz lyrisch und gesanglich interpretiert, sehr außergewöhnlich. Bei dieser Musik ist der allgemeine Duktus immer ein Balanceakt. Die Chromatik lädt zum Verweilen ein, aber man muss darauf achten, dass man den ganzen Apparat im Fluss hält! Bei dieser Aufnahme ist das schön gelungen. Es geht immer weiter. Andris Nelsons wäre meine erste Vermutung.
Bartók: Konzert für Orchester – 5. Presto
Gustav Mahler Jugendorchester, Peter Eötvös
Musicom 1993
Das ist das Presto aus Béla Bartóks „Konzert für Orchester“, und zwar sehr flott gespielt. Geradezu ein „Presto Presto“. Anhand der Spielart würde ich sagen, das muss ein ungarisches Orchester sein, das dieses Temperament ganz verinnerlicht hat. Besonders die Ersten Violinen zeigen absoluten Mut zum Risiko. Das finde ich klasse! Es hebt den folkloristischen Gestus des Stückes hervor. Ist es das Budapest Festival Orchestra? Nein? Auf das Gustav Mahler Jugendorchester wäre ich nicht gekommen. Das ist ja verrückt, erklärt aber den mitreißenden Charakter. Und ein ungarischer Dirigent war hier sicher ein guter Pate.
Dvořák: Sinfonie Nr. 9 e-Moll – 3. Molto Vivace
New York Philharmonic, Kurt Masur
Teldec 1992
Dvořák: Sinfonie Nr. 9 e-Moll – 3. Molto Vivace
Münchner Philharmoniker, Sergiu Celibidache
MPhil 1988
Ich habe diese Sinfonie mit dem neu gegründeten „Chineke! Orchestra“, das ich erst ein paar Tage vorher kennengelernt hatte, live aufgenommen. Das Konzert war sehr energiegeladen. Da habe ich auf mehr Watt gesessen, als diese Anlage hinter uns produzieren kann (schmunzelt). Insofern kommt meine Aufnahme dem ersten Hörbeispiel sehr viel näher, was die Tempogestaltung angeht. Ich finde, dass beide Aufnahmen ihre Daseinsberechtigung haben. Die zweite verfolgt ein ganz anderes Tempokonzept. Wir müssen uns fragen, was unsere heutige schnelllebige Zeit mit unserem Tempoempfinden macht. Was für uns heute langsam ist, wurde vor hundert Jahren eventuell ganz anders empfunden. So haben unterschiedliche interpretatorische Ansätze von Metronom-Zahlen auch ihre Gültigkeit. Keinen davon möchte ich verdammen. Aber ich habe nicht die leiseste Idee, wer es sein könnte. Es gibt gefühlt eine Million Aufnahmen von diesem Werk. Ich bin mir sicher, dass es nicht Nikolaus Harnoncourt ist, dessen Aufnahme ich sehr schätze, weil sie außergewöhnlich farben- und detailreich gestaltet ist.
Janáček: Sinfonietta – 5. Andante con moto
SWR Radiosinfonieorchester Baden-Baden & Freiburg, Sylvain Cambreling
Glor 2011
Ich rätsele noch. Aus dem Bauch heraus tippe ich auf ein Werk von Janáček. Ich liebe diesen Komponisten sehr, weil er so unvermittelt Klangblöcke gegeneinanderstellt. An einigen Stellen findet faszinierend wenig Klangmischung statt, und es entstehen verrückte Spaltklänge. Auf einmal kontrastiert der Posaunensatz mit den Klarinetten. Ist das wirklich aus der Sinfonietta? Ich würde das Stück wahnsinnig gerne mal machen, dafür brauchen wir allerdings noch sieben zusätzliche Trompeten.
Tschaikowsky: Nussknacker-Suite – Marsch
Berliner Philharmoniker, Mstislav Rostropovich
Deutsche Grammophon 1979
Die „Nussknacker-Suite“! Obwohl ich dieses Werk mit den Münchner Symphonikern aufgenommen habe, ist Tschaikowsky ein Komponist, den ich eher meide. Vielleicht habe ich vor seiner überbordenden Emotionalität einfach zu großen Respekt. Er hat Musik komponiert, der man sich absolut hingeben muss. Meine Stärken sehe ich eher in anderem Repertoire. Dieser Aufnahme zuzuhören, macht mir Spaß. Ich mag das prägnante Blech. So hört man es in Deutschland eigentlich weniger. Ich bin überrascht, dass es die Berliner Philharmoniker sind. Rostropowitsch hat hier mit seiner zupackenden Art dem Orchester ganz unerwartete Klangakzente entlockt. Bravo!
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